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In der falschen Klasse

Was es bedeutet, Arbeiterkind zu sein, erfuhr unser Autor im ersten Semester seines Studiums. Über die unsichtbare Macht des Wissens

Christian Baron,1988

Die schönste Zeit meines Lebens begann mit tiefer Einsamkeit. 2006 zog ich von Kaiserslautern nach Trier, um dort zu studieren. Die beiden Städte in Rheinland-Pfalz liegen nur ca. 100 Kilometer voneinander entfernt, mir aber kam es vor, als hätte ich ein neues Universum betreten. Schon meine erste Fahrt mit dem Bus zum Hochschulgelände geriet zur Tortur. Diese Viertelstunde am frühen Morgen in einem engen Gefährt voller entspannter Zwanzigjähriger setzte einen Marker: Er zeigte an, wer dort oben auf die Tarforster Höhe gehörte – und wer nicht. Ich sah die Freude in den Augen der anderen. Ich hörte, wie sie einander Geschichten von den wilden Studienjahren ihrer Eltern erzählten. Und ich fühlte, dass wirklich niemand auch nur annähernd so viel Beklemmung empfand wie ich.

Was ein Tutorium ist, wer eigentlich diese „Hiwis“ sind, warum im Vorlesungsverzeichnis bei den Uhrzeiten immer „c.t.“ oder „s.t.“ steht und wozu man einen Leistungsschein braucht, das schienen die anderen längst zu wissen. Wer nicht, der eignete es sich binnen kürzester Zeit an; spielerisch und furchtlos. Während ich noch erstarrte, wenn ich nur das bedeutungsschwere Wort „Universität“ am Eingang zum Campus las, verabredeten sich die anderen schon zum gepflegten Kneipenabend.

Die feinen Unterschiede

Das Selbstbewusstsein der anderen gab mir zu verstehen, dass ihnen der Raum mehr gehörte als mir. Wenn ich in der Mensa zu Pommes statt Salat griff, bedachten sie mich mit humorvoll getarntem Tadel. In meiner Kindheit aßen wir eben, was wir uns gerade leisten konnten. Weil wir bisweilen nicht wussten, wie wir die Woche überstehen sollten, musste das Essen oft möglichst fetthaltig sein. Auf WG-Partys war es ein beliebtes Spiel, Unbekannte zu fragen, wo er oder sie „denn schon so herumgereist“ sei. In solchen Momenten verkroch ich mich unauffällig in der Schamecke. 

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Einschulung 1991

Klassenclown: Der Autor bei seiner Einschulung 1991. In Deutschland hat ein Kind aus einer Akademikerfamilie eine fast vier Mal größere Chance auf eine Gymnasialempfehlung

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Christian Baron (Foto: Hans Scherhaufer)

Heute arbeitet Christian Baron als Redakteur bei der Wochenzeitung „Der Freitag“ – und hat Anfang des Jahres den Bestseller „Ein Mann seiner Klasse“ veröffentlicht

(Foto: Hans Scherhaufer)

Und dann war da die Sache mit der Sprache: Bis zum Studienbeginn hatte ich nur Pfälzisch gesprochen. Darum dauerte es lange, ehe ich mich halbwegs sicher auf Hochdeutsch ausdrücken konnte. Ständig sprach ich Wörter falsch aus oder fiel zurück in meinen Dialekt. Das Gekicher der anderen höre ich bis heute. Damals drohte ich zu ertrinken in einem Meer aus Nichtwissen und unausgesprochenen Regeln, in dem sich die anderen bewegten wie Fische.

Woher meine Probleme und Hemmungen kamen, wurde mir erst später klar: Ich bin ein Arbeiterkind. Als Erster und noch immer Einziger in meiner Familie habe ich Abitur gemacht. In Deutschland studieren rund 70 Prozent aller Akademikerkinder, aber nur gut 20 Prozent der Nichtakademikerkinder – und da sind die ökonomisch oft noch sehr gut abgesicherten Facharbeiterkinder schon mitgezählt. Aus Familien, in denen beide Elternteile keinen beruflichen Abschluss haben, sind es sogar nur zwölf Prozent. Zu diesen Sonderfällen unter Sonderfällen gehöre auch ich: Mein Vater war ungelernter Hilfsarbeiter, er schuftete völlig unterbezahlt als Möbelpacker, was ihn nebenbei auch noch zum Säufer und Schläger machte. Meine Mutter war ebenfalls ungelernt, ohne Ausbildung. Auch einer Erwerbsarbeit ging sie nicht nach, schließlich musste sie sich um ihren kranken Mann und ihre vier Kinder kümmern. 

„Meine mit bildungsbeflissenen Eltern gesegneten Freunde haben sich das Wissen um bürgerliche Regeln von klein auf unbewusst angeeignet“

Ein Kind aus einer Akademikerfamilie hat bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und gleicher Lesekompetenz eine fast vier Mal größere Chance auf eine Gymnasialempfehlung als ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie. Ich bekam eine – nicht obwohl, sondern weil meine Lehrerinnen wussten, was bei mir zu Hause vor sich ging. Sie sahen etwas in mir, das niemandem sonst sichtbar war – am allerwenigsten einem Knirps wie mir. Doch kein Gymnasium der Stadt nahm mich auf.

Auch das nach dem frühen Tod meiner Mutter für meine Familie zuständige Jugendamt legte ein Veto ein, weil es annahm, dass ich aufgrund meiner sozialen Herkunft unmöglich den Leistungsanforderungen eines Gymnasiums entsprechen könnte. Mit Glück durfte ich eine Gesamtschule besuchen, an der ich in der Oberstufe einem Sozialkundelehrer begegnete, der mich unter seine Fittiche nahm und zum Abitur lotste.


 
 
Christian und seine Mutter, 1985

In den Armen von Armen: Der Autor mit seiner Mutter 1985. Seine Eltern waren ungelernt, hatten keine Ausbildung

An der Uni strengte ich mich an, meine soziale Herkunft zu vertuschen. Die Angst davor, etwas Dummes zu sagen, saß mir sogar beim Grillabend mit den Nachbarn aus dem Studentenwohnheim im Nacken. Die anderen wissen mehr, können mehr, wollen mehr, so dachte ich, als trügen sie ein letztes Geheimnis in sich, dessen Entschlüsselung mir auf ewig verborgen bleibt.

Wissenslücken der Bildungsbürgerkinder

Ich galt als anstrengend, streberhaft, spröde. Häufig hörte ich den Spruch: „Mach dich mal locker!“ Das tat weh, aber die anderen wussten es ja nicht besser. Wer nicht am eigenen Leib erlebt hat, wie erniedrigend und entbehrungsreich es ist, in Armut und sogenannten bildungsfernen Verhältnissen aufzuwachsen, der hat davon keine Vorstellung. Meine mit bildungsbeflissenen Eltern gesegneten Freunde haben sich das Wissen um bürgerliche Regeln von klein auf unbewusst angeeignet und diesen Aneignungsprozess später verdrängt. Es ist wie mit den Fremdsprachen: ob man sie als Kind lernt oder als Erwachsener – letzterem wird man immer anmerken, dass es nicht seine Erstsprache ist.

Erst nach mehreren Semestern fand ich den Mut, die Bildungsbürgerkinder mit ihren Wissenslücken zu konfrontieren. Lästerte etwa im Vorbeigehen an einer Eckkneipe jemand zum wiederholten Mal: „Das ist ja mal eine echte Spelunke für Asoziale“, dann sagte ich ihnen, wie beleidigend es für mich ist, dass er oder sie Menschen als „asozial“ diffamiert, nur weil sie womöglich nicht studiert haben. Damit stieß ich häufig auf Verwunderung, bisweilen auf Unverständnis, erstaunlich oft aber brachte ich Menschen zum Nachdenken.

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Zahlreiche Studien zeigen, dass der Bildungserfolg in Deutschland sehr stark von der sozialen Herkunft abhängt. Im Vergleich zu anderen Industrienationen ist die Bundesrepublik unterdurchschnittlich: Kitas, Schulen und Unis bauen die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer nicht ab, sondern verfestigen sie. In allen Bundesländern ist der Übergang von der Grundschule zum Gymnasium kaum an die individuelle Leistungsfähigkeit oder den Bildungshunger des Kindes geknüpft, sondern in erster Linie an den formalen Bildungsgrad der Eltern. „Tatsächlich hieß Chancengleichheit nichts anderes, als dass Hase und Schildkröte an derselben Startlinie standen“, schreibt die Schriftstellerin Marion Messina. Solange die Ungleichheit der Ausgangsbedingungen bestehen bleibt, wird ein Kind armer Leute nur selten einen Bildungsaufstieg hinlegen. Dass ich es geschafft habe, lag nicht in erster Linie an meiner Leistung oder Begabung, sondern vor allem auch daran, dass es Menschen gab, die mich zu dieser Startlinie gelotst haben.

Fotos: privat

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