Es ist ein Hilferuf. „Normalerweise würde es regnen. Bitte gießt mich!“, steht auf dem Schild, das an einem Baum in der Weserstraße in Berlin-Neukölln hängt. Die Auswirkungen des Klimawandels werden hier ganz konkret. Mehrere aufeinanderfolgende extrem trockene Sommer haben den Straßenbäumen zugesetzt, vor allem den jüngeren, deren Wurzeln noch nicht bis zum Grundwasser reichen.
Der Baum mit dem Schild ist 28 Jahre alt, es handelt sich um eine Winterlinde, wie ein Blick auf die Webseite www.giessdenkiez.de verrät. Auf einer großen Kartefinden sich hier Infos zu fast allen Berliner Stadtbäumen – 625.000 Stück – und zusätzlich, wie viel Niederschlag sie in den vergangenen 30 Tagen abbekommen haben.
In der Stadt leben oft mehr Tier- und Pflanzenarten als im Umland
Pflanzen sind genauso Teil des städtischen Raums wie Häuser und Straßen, Parkplätze und Bushaltestellen. Das urbane Grün wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert geschaffen, als die Städte im Zuge der Industrialisierung rasant wuchsen. Um den beengt lebenden Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit zur Naherholung zu geben, pflanzte das Bürgertum Straßenbäume und legte Volksparks an.
Der heute oft verwendete Begriff „Stadtgrün“ ist noch weiter gefasst und meint Pflanzen in allen möglichen Formen: privat auf Balkonen oder öffentlich auf den Grünstreifen von Straßen, sorgsam geplant in Blumenbeeten oder als spontaner Wildwuchs in verlassenen Fabriken, auf Friedhöfen und Fußballfeldern, an efeubewachsenen Hausfassaden und S-Bahn-Trassen, an Flussufern oder in Fußgängerzonen. Im kleinteilig zergliederten urbanen Raum leben dabei oft mehr verschiedene Tier- und Pflanzenarten als im unmittelbaren Umland, das von den großflächigen Monokulturen der industriellen Landwirtschaft geprägt ist.
Das Titelbild oben hat Lucas Foglia in Singapur aufgenommen. Dort gibt es besonders viele Pflanzen auf Dächern und an Fassaden. Außerdem soll jede Bürgerin und jeder Bürger nicht länger als zehn Minuten zum nächsten Park brauchen.
Doch nicht nur für die Artenvielfalt ist Stadtgrün wichtig, sondern auch für die Gesundheit der menschlichen Bewohner: Es sorgt für bessere Luft, bindet Feinstaub und kühlt. „In Städten ist es fast immer ein paar Grad heißer als im Umland. Das liegt an den vielen versiegelten Flächen: Gebäude, Straßen, Parkplätze heizen sich und ihre Umgebung auf“, sagt Michael Richter, der an der HafenCity Universität Hamburg zum Thema „Umweltgerechte Stadt- und Infrastrukturplanung“ forscht. Stadtpflanzen verbessern das Klima, weil sie durch das Verdunsten des an ihren Wurzeln aufgenommenen Wassers über ihre Blätter für eine natürliche Kühlung sorgen. So lindern Straßenbäume die kommenden Hitzesommer, unter denen sie selbst leiden.
Das Grün in der Stadt ist aber auch noch für eine weitere Folge des Klimawandels bedeutsam. In Deutschland nehmen Starkregen zu, doch die Kanalisationssysteme sind nicht für derartige Wassermassen ausgelegt. Regenüberlaufbecken sollen das Abwasser vorübergehend aufnehmen und später zur Kläranlage führen – sind sie aber auch überfüllt, wird es höchstens grob gefiltert in Flüsse und Seen geleitet. „Jahrzehntelang war die Prämisse: Regen muss möglichst schnell raus aus der Stadt, von den Dächern und Straßen direkt in die Kanalisation“, sagt Richter. Nun werde umgedacht – und die sogenannte Schwammstadt zu einem neuen Leitbild: Möglichst viel Regen soll gar nicht erst in die Kanalisation gelangen, sondern im Boden versickern, in Becken aufgefangen und von Pflanzen zwischengespeichert werden. Da anschließend mehr Wasser verdunstet, werden Schwammstädte zusätzlich besser gekühlt.
Für viele heimische Pflanzen sind die Städte bald schon zu heiß und zu trocken
Dafür aber müssen zubetonierte Bereiche wieder geöffnet, Gehwege durchlässiger und mehr Grünflächen eingeplant werden. Weil in den engen Städten wenig Platz ist, wird dabei auch sehr kleinteilig gedacht: So sollen in Zürich „Klimadeckel“ an Gullys dafür sorgen, dass Regenwasser im Sommer anstatt in die Kanalisation zu nahen Pflanzen geleitet wird – nicht aber im Winter, wenn es mit Resten von Streusalz belastet ist. Ein anderes Puzzleteil sind größere Baumgruben, die dem Wurzelwerk mehr Platz bieten und mit einem lockeren Schotterbett gefüllt sind, das viel Wasser aufnimmt.
Auch ein Haus kann ein Schwamm sein, wenn man das Dach begrünt. Für die einfachste Variante reicht schon eine zehn Zentimeter dicke Schicht Nährboden. Dort wachsen dann vor allem pflegeleichte Pflanzen wie die Fette Henne, der Mauerpfeffer und andere Vertreter der Gattung Sedum, die mit ihren fleischigen Blättern besonders viel Wasser speichern können. Das nächste Level sind begehbare Grünanlagen auf den Dächern – oder vertikale Gärten in Form von begrünten Fassaden. „Bei der Dachbegrünung ist Deutschland Vorreiter, damit wurde schon in den 1970er-Jahren begonnen“, sagt Michael Richter. „Mittlerweile haben viele Großstädte sie verpflichtend in ihre Bebauungspläne aufgenommen.“ In Hamburg ist der Anteil der Gründächer in den vergangenen fünf Jahren um rund 20 Hektar gestiegen. In dem eng besiedelten Stadtstaat Singapur gibt es Neubauten, die vom Dschungel überwuchert scheinen, so viel Grün ist in sie integriert. Neu denken müssen Stadtplanerinnen und Stadtplaner aber auch bei vermeintlich einfachen Dingen wie der Auswahl der Bäume für neue Wohnviertel. Für einige heimische Arten dürfte es in der Stadt bald einfach zu heiß und trocken werden, etwa für die Rosskastanie, die zusätzlich durch eingewanderte Miniermotten geschwächt ist und dadurch leicht durch eine bakterielle Infektion abstirbt, die durstige Winterlinde sowie die auch noch unter dem Massaria-Pilz leidende Platane. Stattdessen könnten bald Silberlinden, Morgenländische Platanen und neue Ahornsorten an den Straßen stehen.
Soll man auf den wenigen Freiflächen bezahlbare Wohnungen bauen – oder sie als Grünflächen erhalten?
Immer mehr Menschen werden auch selbst aktiv, um ihre Städte grün zu halten. Die Urban-Gardening-Bewegung begrünt leer stehende Grundstücke mit selbst gezimmerten Hochbeeten für Blumen und Gemüse und schafft auf diese Weise nachbarschaftliche Begegnungsorte. Anderswo werden Hängebeete an Zäunen montiert, Blumenwiesen für Wildbienen gesät, Insektenhotels und Vogelhäuschen aufgestellt – oder manchmal auch bloß das Stück Erde rund um den Stamm des nächstgelegenen Stadtbaums bepflanzt. Wo früher Hundekot lag, blühen nun Hortensien.
Das Bundesumweltministerium hat 2019 einen Plan für mehr Stadtnatur veröffentlicht. Und Berlin hat seine Initiativen und Programme 2020 unter dem Dach der „Charta für das Berliner Stadtgrün“ gebündelt. Zwar ist die Charta nur eine politische Selbstverpflichtung und keine bindende Verordnung. Aber sie soll eine bessere Verhandlungsposition im Sinne der Pflanzen verschaffen. Stadtentwicklung ist nur mit Kompromissen zu machen, und die scheinen manchmal schwer zu erreichen. Weil günstiger Wohnraum in den Städten zunehmend knapper wird, ist die Konkurrenz um Flächen groß. Soll man auf den wenigen Freiflächen lieber bezahlbare Wohnungen bauen oder sie als grüne Oasen erhalten? Beide Seiten argumentieren mit dem Wohl der Menschen. In Berlin löste gerade eine Überlegung, die Wohnungnot zu lindern, heftige Proteste aus: Teile der Schrebergartensiedlungen sollen zu Bauland erklärt werden.