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„Die Armut soll einen Monat lang versteckt werden“

Die Olympischen Spiele in Paris sollen besonders sozial und nachhaltig sein. Pariser Hilfsorganisationen zeichnen jedoch ein ganz anderes Bild

Obdachlose Familie vor dem Rathaus in Paris

fluter.de: In Zeiten von Olympia – wie ist die Stimmung in Paris?

Antoine de Clerck: Ich denke, es gibt aktuell drei Arten von Parisern. Die einen sind aus der Stadt geflüchtet und vermieten ihre Wohnung bei Airbnb. Die anderen haben Tickets und freuen sich auf die Spiele. Die allermeisten aber, jene, die vielleicht nicht die Ressourcen haben, um wegzufahren oder Tickets zu kaufen, sind von den ganzen Barrieren und den Ausfällen im Nahverkehr genervt. Ich würde also sagen, die Leute sind etwas mürrischer als ohnehin schon in Paris (lacht).

In Ihrem Bündnis „Le revers de la médaille“ haben sich mittlerweile über 100 gemeinnützige Vereine zusammengeschlossen. Wie kam es dazu?

Angefangen hat es damit, dass ab dem Frühjahr 2023 bis zum Ende des Jahres an die 4.000 wohnungslose Menschen aus informellen Siedlungen in Seine-Saint-Denis vertrieben wurden. Das ist das ärmste Département im Hexagon (so wird der kontinentale Teil Frankreichs auch genannt – er ähnelt einem Sechseck, Anm. d. R.), genau dort wurde aber das Olympische Dorf erbaut. Gemeinsam haben wir uns bei den Behörden darüber beschwert, dass es noch keine alternativen Unterbringungen gab. Die französische NGO „Observatoire des Expulsions“, die zu „Ärzte der Welt“ gehört, hat dokumentiert, dass seitdem über 12.500 Menschen vertrieben wurden.

Seine-Saint-Denis

Seine-Saint-Denis
Bewohner eines besetzten Hauses der Pariser Vorstadt Montreuil Anfang Juni. Rund ein Drittel der 1,6 Millionen Einwohner von Seine-Saint-Denis haben einen Migrationshintergrund

Wenn es keine Alternativen gibt, was passiert dann mit den Menschen?

Sie werden in Busse gesetzt, die Berichten von Observatoire des Expulsions zufolge zehn Orte außerhalb von Paris ansteuern. Bis Juli gab es keine einzige Notfallunterkunft in Île-de-France (die Region um Paris, Anm. d. R.). Dort werden die Menschen für drei Wochen in Billighotels untergebracht, um ihre Situation zu prüfen. Im Schnitt bekommen ungefähr 40 Prozent eine mittelfristige Unterbringung vermittelt. Für den Rest gibt es keine richtige Lösung. Sie landen entweder im regulären System für Notunterkünfte, das man in Frankreich erreicht, wenn man die 115 wählt, oder wieder auf der Straße. Aber eben weit von Paris entfernt. Diejenigen, die sich weigern, in den Bus zu steigen, werden aus dem Zentrum verdrängt und streifen fortan durch die Banlieues.

„Die Reaktion auf unsere Vorschläge war eine olympiawürdige Leistung im Pingpong: Jede Stelle schob die Verantwortung den anderen zu“

Wie genau werden die Betroffenen aus der Stadt verdrängt?

Ganz einfach: Wenn sie in einem besetzten Gebäude gewohnt haben, schmeißt du die Leute raus, umzäunst das Haus mit Stacheldraht und lässt Securitys Wache stehen. Bei Zeltlagern verteilt man Steine und Betonblöcke, damit keiner mehr zurückkommt. Jetzt gerade sind zusammen um die 50.000 Polizisten und Soldaten in der Stadt, und überall gibt es Barrieren und Zäune. Es ist unmöglich geworden, sich an einem öffentlichen Ort in der Innenstadt aufzuhalten und zu übernachten.

Sie werfen der Regierung eine „soziale Säuberung“ vor, also die Belästigung, Vertreibung und Unsichtbarmachung von Menschen, die von den Behörden als unerwünscht kategorisiert werden. Die offizielle Seite, zum Beispiel Sportministerin Amélie Oudéa-Castéra, streitet den Zusammenhang mit Olympia ab. Inwiefern gab es solche Zwangsräumungen bereits vorher?

Natürlich gab es die, aber im Vorfeld zu den Spielen haben sie sich definitiv intensiviert, und es liegt ein klarer Fokus auf den Austragungsorten in Paris und Umgebung. Jetzt gerade wurde ein Zeltlager am Kanal zwischen Saint-Denis und Paris geräumt. Das existiert seit drei Jahren, warum also genau jetzt, kurz vor den Spielen? Es wurde als „humanitäre Aktion“ dargestellt. Verschwiegen wurde aber natürlich, dass die Menschen nur kurzfristig in eine Notunterkunft kommen. Es geht ganz klar darum, die Armut für einen Monat zu verstecken, um die Leute dann wieder auf die Straße zu setzen. Gerade Städte wie Paris wollen für so ein Event ihr perfektes Postkartenimage wahren.

Obdachlosenunterkunft außerhalb von Orléan

Ein Obdachlosenheim außerhalb von Orléans
Eine Obdachlosenunterkunft, zwei Stunden Fahrtzeit von Paris entfernt. Auch hierhin ließ die französische Regierung Wohnungslose mit Bussen bringen

Auch Drogenabhängige und Sexarbeitende passen laut den Behörden nicht ins Bild.

Richtig. Per Polizeidekret gibt es jetzt ein Versammlungsverbot für Drogenabhängige. Das macht sie weniger sichtbar, löst aber nicht das Problem. Sie konsumieren weiter, sind dabei aber bloß noch isolierter und können schwer von den NGOs erreicht werden. Auch der Umgang mit Sexarbeitenden hat sich seit letztem September stark verändert: Da das Anbieten von Sexarbeit in Frankreich entkriminalisiert ist, stellte die Polizei bisher nur sicher, dass es an Hotspots wie dem Bois de Vincennes nicht zu Gewalttaten kommt. Die Frauen dort sind oft Opfer von Menschenhandel. Jetzt werden die Sexarbeitenden selbst ins Visier genommen, in Abschiebegefängnisse gesperrt und des Landes verwiesen.

Die diesjährigen Spiele sollten besonderes Augenmerk auf Inklusion und soziale Verantwortung legen. Es hört sich so an, als hätte das nicht geklappt.

Paris hat sich denkbar schlecht geschlagen. Als wir letztes Jahr im September anfingen, uns gemeinsam zu engagieren, glaubten wir auch noch an die Versprechen und stellten eine Liste mit einfachen Vorschlägen zusammen. Wir sind zu jeder denkbaren offiziellen Stelle und Institution gegangen: dem Internationalen Olympischen Komitee, der Polizei, der Stadtverwaltung, verschiedenen Ministerien. Die Reaktion darauf war eine olympiawürdige Leistung im Pingpong: Jede Stelle schob die Verantwortung den anderen zu …

Thomas Astrup
Der Aktivist Thomas Astrup (rechts) initiiert seit fünf Jahren Hausbesetzungen in Seine-Saint-Denis. Hier steht er vor einem kurz zuvor geräumten Gebäude

Léa Filoche, die stellvertretende Bürgermeisterin von Paris, beschwerte sich kürzlich in einem Interview darüber, dass die Regierung die gesamte Verantwortung der Stadt überlasse.

Die Stadt war deutlich kooperativer als andere Institutionen, was meiner Meinung nach auch daran liegt, dass es eine linke Regierung ist. Es gibt einen politischen Machtkampf der verschiedenen Verwaltungsebenen, der auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen wird: Gerade Bürgermeisterin Anne Hidalgo und die konservative Präsidentin des Regionalrats von Île-de-France, Valérie Pécresse, geraten aneinander. Als Hidalgo zum Beispiel entschied, eine leere Schule als Notunterkunft zu nutzen, und 200 Menschen dorthin schickte, wurden diese von der örtlichen Polizei empfangen, die ihnen den Eintritt verwehrte.

„Wir haben einen Plan ausgearbeitet, der zehn Millionen Euro kosten würde. Aber wir bekamen eine Absage – wir sollten stattdessen bei den Sponsoren nachfragen“

Es konnte also mit keiner offiziellen Stelle an Lösungen gearbeitet werden?

Nein, so richtig übernahm niemand die Verantwortung. Am Ende deutete alles auf das Ministerium für Inneres, das aber auf keinen unserer offiziellen Briefe jemals antwortete. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) zeigte sich erst mal interessiert, hat im Endeffekt aber nichts getan. Es ist nicht seine Aufgabe, Regierungsarbeit zu erledigen, aber es hätte die finanziellen Ressourcen.

Das Budget für die Spiele umfasst knapp neun Milliarden Euro. Wie viel würde es kosten, Ihre Pläne umzusetzen?

Wir haben einen Plan ausgearbeitet, der rund zehn Millionen Euro kosten würde. Das ist nicht wenig Geld, aber in Anbetracht des Budgets und der Tatsache, dass man zum ersten Mal in der Geschichte inklusive Spiele abhalten wollte, wäre das stemmbar gewesen. Aber wir bekamen eine Absage – wir sollten stattdessen bei den Sponsoren nachfragen. Die meisten zeigten sich besorgt, aber Geld hatte dann keiner der Milliardenkonzerne übrig.

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Schlafplatz in Montreuil, in der Nähe von Paris
Die einen kämpfen um Medaillen, die anderen ums Überleben: Improvisierter Schlafplatz in Montreuil

Welche Schritte hätten für wirklich inklusive Spiele unternommen werden müssen?

Letztes Jahr haben wir 50 Vorschläge gemacht, um die aktuelle Situation zu verhindern. Zum Beispiel bräuchten wir ein humanitäres und dauerhaftes Erstaufnahmezentrum für Geflüchtete in Paris – das gibt es bisher nur für Menschen aus der Ukraine. Damit niemand mehr auf der Straße landet, bräuchte es Tausende zusätzliche Notunterkünfte in der Île-de-France. Es gibt sogar ein Gesetz in Frankreich, das es ermöglicht, Häuser, die länger als zwei Jahre leer stehen, für die Unterbringung von Obdachlosen zu nutzen. Das müsste angewandt werden.

Wie wird Ihre Arbeit während der Olympischen Spiele weitergehen?

Wir werden alles dokumentieren und sicherstellen, dass vulnerable Gruppen zu essen bekommen und medizinisch versorgt werden. Wir übergeben die Fackel an Los Angeles, das als Nächstes 2028 dran ist und wo zehnmal mehr Obdachlose als in Paris leben. Organisationen wie das IOC werden sich wohl von sich aus kaum oder vielleicht sogar nie ändern, deswegen müssen Zivilgesellschaft und Presse mehr Druck ausüben. Schon vor der Bewerbung um die Austragung, für die Milliarden versenkt werden, sollten Bürger, oder zumindest deren gewählte Vertreter, gefragt werden. Leider passiert das zu selten. Frankreich hat gerade den Zuschlag für die Winterspiele 2030 erhalten, ohne dass die Öffentlichkeit irgendwie involviert wäre.

Sie scheinen sehr enttäuscht zu sein.

Ehrlich gesagt ja, ich bin etwas verbittert. Natürlich ist es eine Herausforderung, Tausende Menschen unterzubringen – aber ich bitte Sie, wir empfangen schätzungsweise 15 Millionen Touristen und haben einfach mal so ein olympisches Dorf für 14.000 Athleten und Sportfunktionäre aufgezogen. Wenn auch nur über den Sommer, es wäre möglich gewesen. Und das alles in Frankreich, dem Land der Menschenrechte und der Demokratie.

Antoine de Clerck ist Menschenrechtsaktivist sowie Koordinator und Sprecher des Kollektivs „Le revers de la médaille“ (Die Kehrseite der Medaille).

Portrait: privat

 

Fotos: Dmitry Kostyukov/NYT/Redux/laif

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