Jeden Morgen laufe ich auf dem Weg ins Büro an Hassans Bioladen vorbei. Hassan trägt eine selbst gestrickte Wollweste, immer liegen Brötchen mit Körnerschrot im Schaufenster aus. Dahinter steht im Halbdunkeln an der Wand: „Regional ist 1. Wahl“. Und jeden Morgen überkommt mich kurz ein schlechtes Gewissen. Denn ich habe versagt.
Dabei begann alles mit schwungvollem Weltverbesserer-Optimismus: Die Idee war, sich für drei Wochen in der Großstadt ausschließlich von regionalen Produkten zu ernähren. Ich wollte wissen, was in meiner Umgebung wächst, welche CO2-Bilanz meine Ernährung hat, und eine klügere Konsumentin werden. Einfach alles besser machen.
Die 150-Kilometer-Regel
Sollte nicht so schwer werden, dachte ich. Denn ich ernähre mich seit über 20 Jahren vegetarisch, habe eine Bioladen-Treuekarte mit stolzer Punkteanzahl, bin per Du mit den Jungs vom Urban-Gardening-Projekt nebenan und käme nie auf die Idee, im Dezember Erdbeeren zu essen. Weil ich mich also schon für eine bedachte Konsumentin hielt, wollte ich eine zusätzliche Herausforderung und begann meinen Selbstversuch im Winter. Meine Regel: Gleichbleibendes Budget (Volontärin in einem Verlag) für eine Ernährung, die nur noch aus regionalen Produkten bestehen sollte.
Aber was bedeutet „regional“ eigentlich? Es gibt keine allgemeingültige Definition oder Beschränkung, alles ist Verhandlungssache. Mit einem selbst. Auf die Idee, wie ich in Berlin einen vernünftigen Radius bestimmen kann, bringt mich schließlich die von meinen „Woher genau“-Fragen gereizte Verkäuferin am Gemüsestand: „Hundertfuffzich Kilometer müssten ditt schon sein.“ Sonst müsse ich ja och auf die knackigen Kürbisse verzichten und nein, ditte könne ich ja nich wollen. Ich lasse also die Kürbisse entscheiden.
In der WG-Küche sortiere ich nach der neuen Umkreisbemessung mein Regal aus. Übrig
bleiben: getrocknetes Obst, ein Salatkopf, Teekräuter und ein paar Kartoffeln.
So viele meiner Standardprodukte – auch die aus dem Bioladen – haben sehr weite Wege hinter sich. Damit bringen die aussortierten Sachen zusammen eine CO2-Bilanz mit in den Haushalt, die es locker mit der eines Fluges von Berlin-Schönefeld nach London-Gatwick aufnehmen könnte. Weggeschmissen werden sie natürlich nicht, sondern an meine Mitbewohner verschenkt.
Durch die vermeintlich einfache Vorgabe, dass alles regional sein soll, wird meine Ernährung zum neuen Lebensmittelpunkt
Alle meine Einkäufe sind jetzt genau vorbereitet, und ich weiß, was ich für meinen Speiseplan der nächsten fünf Tage brauche. Keine Lustkäufe mehr. Außer ein spontanes Grünkohl-Gelüst würde mich überfallen. Google Maps wird mein treuester Einkaufsbegleiter, und ich staune immer mehr, was für lange Wege fast alle Produkte hinter sich haben: Der Ingwer ist 12.179,89 Kilometer (Argentinien) Luftlinie entfernt, die Birnen 10.801,76 Kilometer (Peru), Fenchel, Kohlrabi und Zucchini 1.078,68 Kilometer (Italien).
Mit meinem bescheidenen Einkauf fülle ich die Tupperdosen für den nächsten Tag: Rote-Beete-Salat, Kräuterquark und in Honig geschmorte Apfelschnitze. Trotzdem fühle ich mich großartig. Ich habe von einem Restaurant gehört, das einen Michelin-Stern für die regionale Küche erhalten hat, das kocht sogar ganz ohne Salz und Pfeffer. Das schaffe ich auch. Denke ich. Kurz.
Nach nur drei Tagen ohne Kaffee (Luftlinie Guatemala 9.541,18 Kilometer) und Brotaufstriche will ich nicht mehr. Abgesehen davon habe ich drei Ringe unter jedem Auge. Es ist dunkel, kalt und nass draußen, und mein Lindenblütentee zum Aufwachen schmeckt grauenhaft.
Ohne Salz (aus der Umgebung von Halle, 154,43 Kilometer, also knapp vorbei) mit Gemüse zaubern schmeckt bei mir nicht nach Michelin-Stern, sondern nach Babynahrung. Meine Laune nach dem Mittagessen im Büro ist schlecht, die Kollegen kommen bestens genährt vom Vietnamesen zurück, meine Konzentration schwindet. Wie weitreichend mein Selbstversuch ist, wird mir besonders durch meinen schwerfällig gewordenen Arbeitsalltag bewusst. Ich beschließe, dass Salz und Kaffee mein Kryptonit sind. Und erlaube mir diese beiden Ausnahmen. Das ist der Anfang vom Ende.
Die Ernährung erobert meinen Alltag
Durch die vermeintlich einfache Vorgabe, dass alles regional sein soll, wird meine Ernährung in den nächsten Wochen zum neuen Lebensmittelpunkt. Planen, Einkaufen und Kochen fühlen sich mittlerweile wie ein zusätzlicher Job an. Es reicht nicht, sich die Umstellung vorzunehmen. Denn ich muss Rezepte und jede Zutat recherchieren, früh auf den Markt gehen, immer alles dabeihaben. Und nicht überall ist man mit seiner Tupperdose willkommen. Bei einer Geburtstagsparty fällt man noch nicht ganz so auf, muss sich aber den einen oder anderen Kommentar anhören, beim Familienessen gibt es nervige Sprüche oder besorgte Blicke, und spätestens im Restaurant ist man sowieso raus.
Für mich stimmt das Verhältnis von Ernährung und Aufwand nicht mehr. Ich scheitere schon an den kleinen Dingen. Ab und zu will ich Schokolade essen, um mein Mittagstief zu überwinden, will meine Freunde für das Essen würdigen, das sie gekocht haben, will mit meinen Kollegen zum Mittagessen gehen und nicht immer allein im Büro meine Tupperdose auspacken müssen. Mir fehlen Spontaneität und mit anderen zusammen zu essen, ohne andauernd etwas abzulehnen und in einer Sonderrolle sein zu müssen. Ständig das eigene Essverhalten zu kontrollieren nimmt fast schon zwanghafte Züge an und bestimmt den kompletten Tagesablauf.
Mein Körper will auch nicht immer das, was ich essen „darf“. Ich mache viel Sport und habe das Gefühl, ich brauche (als Fastveganerin) Proteine, die es im Winter kaum von regionalen Äckern gibt, und bei der obligatorischen Erkältung will ich meinen Ingwertee trinken.
Mittlerweile entscheidet also nicht mehr nur der Kopf, sondern auch der Körper, was das Richtige ist. Auch wenn meine Ernährungsentscheidung eine politische sein soll, so muss ich doch einsehen, dass sich die Produktion von vielen wichtigen Nahrungsmitteln verschoben hat und nicht mehr in (m)einem „regionalen“ Radius liegt. Spezialisierung, Globalisierung, ganz klar.
Mehr zum Thema CO2-Fußabdruck und Umweltbilanz regionaler Lebensmittel und zur Bedeutung von „Regionalität“ bei Lebensmitteln
Ich glaube, es ist in der Stadt schlicht unmöglich, sich nur mit Produkten aus dem unmittelbaren Umfeld zu ernähren. Vor allem, wenn man ein begrenztes Budget hat. Auch wenn man selbst anbaut und Urban-Gardening-Kumpel ist. Alternativen sind meistens absurd teuer, wie zum Beispiel das Leindotteröl aus Brandenburg für 55 Euro pro Liter statt Olivenöl.
Nach drei Wochen bin ich froh, mein Experiment für beendet zu erklären. Nicht weil ich es geschafft hätte, mich ausschließlich regional zu ernähren, sondern weil ich endlich kein schlechtes Gewissen mehr haben muss, wenn ich Ausnahmen mache. Gelohnt hat sich das Experiment trotzdem.
Ich bin zwar nicht bereit, mich dauerhaft auf regionale Produkte zu beschränken. Aber ich habe einiges gelernt: Wichtiger als meine Regionalbilanz ist mir jetzt, ein Bewusstsein für den Weg, den ein Produkt zurückgelegt hat, zu entwickeln. Dann kann ich abwägen, ob es das wert ist oder nicht. Und die wichtigste Erkenntnis: Manchmal ist es das eben einfach wert. Ganz egoistisch. Ich versuche immer noch, mich mit Produkten aus der Umgebung zu ernähren, soweit es geht. Aber ich weiß auch: Wenn ich versuchen würde, das durchzuziehen, wäre ich nach spätestens einem halben Jahr arm, einsam, frustriert und immer müde. In der Stadt leben und sich komplett regional ernähren ist für mich unvereinbar.
Was sich nach meinem Selbstversuch tatsächlich geändert hat: Ich koche mehr für Freunde (nicht mehr alleine essen), probiere Rezepte aus, die sich nach der Saison richten, und achte darauf, möglichst mit regionalem Gemüse zu kochen. So gut es geht – aber eben nicht ausschließlich.
Fotos: Johanna-Maria Fritz
Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.