Ausgefüllter Fragebogen / Meliksah vor einer Tafel

Started from the bottom, now we’re here

Mehr als 50.000 Schülerinnen und Schüler brechen in Deutschland jedes Jahr die Schule ab. Hier in Köln gehen ein paar wieder gern in den Unterricht

Protokolle: Victoria Porcu und Fotos: Victoria Jung
Thema: Bildung
24. März 2025

Maria Luisa (18): In der 10. Klasse war ich drei Tage, dann bin ich nicht mehr hin. Ich hatte psychische Probleme und Angst vor meinem Klassenlehrer, habe aber nichts gesagt: Der hätte mich eh nicht verstanden. Ich hatte ein Attest, die Schule wusste Bescheid, aber es hat niemanden wirklich interessiert. So habe ich mich immer mehr zurückgezogen.

Meliksah (20): Die Grundschule hat mir noch gefallen. Aber dann kamen auf der weiterführenden Schule der viele Nachmittagsunterricht und die Hausaufgaben. Mich hat das überfordert, ich kam mit dem Stoff nicht hinterher. Ich habe dann die Schule gewechselt, aber als ich nach der 9. meinen Abschluss hatte, war Schluss. Ich wollte nicht mehr. 

Im Sommer wollen Maria Luisa und Meliksah ihren mittleren Schulabschluss machen. An der Tages- und Abendschule (TAS) Köln lernen sie mit mehr als 900 anderen, die hier ihren ersten oder mittleren Schulabschluss, wie Haupt- und Realschulabschluss in Nordrhein-Westfalen heißen, oder das Fachabitur nachholen. 

Die TAS ist eine Weiterbildungseinrichtung für Berufstätige. Heißt: Die Schülerinnen und Schüler müssen regelmäßig kommen, arbeiten aber in der Regel parallel. Die Schule ist privat, Schulgebühren gibt es aber nicht: Die TAS finanziert sich durch öffentliche Gelder und Spenden. 

Maria Luisa: Nachdem ich abgebrochen hatte, war ich ein Jahr zu Hause. An meine alte Schule wollte ich nicht zurück, das wäre zu peinlich gewesen. Über die Berufsberatung habe ich von der TAS erfahren. An meinem ersten Schultag hier war ich sehr nervös, aber auch glücklich: Das ist eine zweite Chance für mich. 

Portrait Maria Luisa

Maria Luisa freut sich auf den Unterricht, das ist neu. In der Zehnten hatte sie die Schule abgebrochen

Stefanie Göllner, Schulleiterin: Unsere Schülerinnen und Schüler kommen oft im Gefühl, gescheitert zu sein. Fast alle haben mehrere Baustellen: Sie sind psychisch erkrankt, tragen zu viel Verantwortung in der Familie, standen vor Gericht, sie haben Erfahrungen mit Schulden, Flucht, Obdachlosigkeit und sexualisierter Gewalt

Jana Heinlein, Lehrerin: Um das auffangen zu können, arbeiten wir in multiprofessionellen Teams. Neben uns Lehrkräften gibt es eine Schulpsychologin. Und Sozialpädagogen, die dafür sorgen, dass die Schülerinnen und Schüler den Kopf frei haben: Der Kollege ist immer ansprechbar, er hilft bei Anträgen fürs Amt, bei der Wohnungssuche, wo es eben gerade brennt. Wir wollen, dass alle gerne herkommen, weil sie wissen, dass wir ihnen bei ihren Problemen helfen. Erst dann können sie sich aufs Lernen konzentrieren. 

Göllner: Die größte Herausforderung für uns sind die Fehlzeiten. Wir wissen, dass es oft gute Gründe gibt, warum jemand dem Unterricht fernbleibt. Aber auch wir müssen Mahnungen und im Zweifel Schulverweise aussprechen. 

Gerade sind Maria Luisa und Meliksah im Vormittagskurs, danach arbeiten beide: sie als Datenpflegerin und in einer Wäscherei, er in der Baufirma seines Vaters. Das geht für beide klar: Hausaufgaben gibt es hier selten. 

Die berufliche Orientierung ist an der TAS besonders wichtig. Auf dem Stundenplan stehen Praktika und Besuche auf Berufsmessen, die Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen helfen bei den Bewerbungen, sogenannte Ausbildungscoaches beim Übergang in die Berufsausbildung. Im Berufswahlunterricht bekommen alle Schülerinnen und Schüler die Zeit, ihre Fähigkeiten zu reflektieren und berufliche Ziele zu formulieren. 

Schülerinnen sitzen um einen Tisch

Das Ziel der TAS: Alle sollen mindestens den mittleren Abschluss machen. Bei fast zwei Dritteln klappe das direkt, sagt Stefanie Schulleiterin Göllner

Meliksah: Ich kann mich hier selbst viel freier ausdrücken. In der Schule davor konnte ich das nur beim Zeichnen, in den anderen Fächern war alles vorgegeben. Und wehe, du weichst vom Weg ab. Das gibt einem doch keine Sicherheit, sich selbst was zuzutrauen. 

Heinlein: Viele unserer Schülerinnen und Schüler sind so belastet, dass sie nie den Raum hatten, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Wenn man fragt: Was möchtest du gerne machen? Was sind deine Stärken? Dann haben sie erst mal keine Antwort, sie sind wie in einer Starre. Uns geht es darum, dass sie innerlich wieder in Bewegung kommen. 

Maria Luisa: Wir werden hier nicht wie Kinder behandelt. Sicher auch, weil wir alle älter sind. Die Lehrkräfte sind verständnisvoller, einfach gechillter. Sie haben Respekt vor uns

Heinlein: Wenn ich die Biografien unserer Schülerinnen und Schüler höre, denke ich oft: Wie schaffst du das? Viele sind sich ihrer unglaublichen Resilienz gar nicht bewusst. 

Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung ist die Quote der Schulabbrüche in Deutschland seit 2011 fast unverändert: Mehr als sechs Prozent, rund 50.000 Schülerinnen und Schüler, gehen jedes Jahr vorzeitig ab – während fast jede zweite Stelle für Fachkräfte unbesetzt bleibt. 

Meliksah vor einer Tafel

Parallel zum Schulbesuch arbeitet Meliksah in der Baufirma seines Vaters. Das geht klar: Hausaufgaben gibt es nur selten

Göllner: Es geht immer darum, Schulabbrecher möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Warum lassen wir sie nicht einfach noch mal zur Schule gehen? Die meisten, die in diese Situation kommen, hatten extrem schlechte Voraussetzungen. Und mit einem höheren Schulabschluss haben sie später bessere Jobaussichten. Schule ist ein Ort, an dem man als Mensch reifen kann. Diese Chance sollten sie bekommen. 

Schaut man sich die mittleren Schulabschlüsse an, schreiben die Schülerinnen und Schüler von Weiterbildungseinrichtungen wie der TAS vergleichbare Noten wie an Regelschulen. Der erste Abschluss sei heute auf dem Arbeitsmarkt wenig wert, sagt Göllner. Ohne Abschluss ist das Risiko größer, später prekär beschäftigt oder arbeitslos zu sein. Das Ziel der TAS: Alle sollen mindestens den mittleren Abschluss machen. Bei fast zwei Dritteln klappe das direkt, sagt Göllner. 

Göllner: Die Zahl muss man aber differenzieren. Manche Schüler schaffen den mittleren Schulabschluss nicht, haben aber bei uns den ersten gemacht. Andere brechen ab, werden aber von uns in eine Ausbildung vermittelt. Das ist formal ein Schulabbruch, aber für die Schüler und für uns ist das ein Erfolg. 

Meliksah: Ich wollte eine Ausbildung machen. Das hat aber wegen eines Umzugs nicht geklappt. Ich habe vom Bürgergeld gelebt und in der Firma meines Vaters gearbeitet. Auf dem Weg zur Arbeit bin ich immer wieder an der TAS vorbeigekommen und dachte irgendwann: Warum nicht versuchen? Wieder im Unterricht zu sitzen ist erfrischend. Als hätte ich die Liebe für die Schule neu entdeckt. 

Cover des fluter-Hefts Schule
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schule“.
Hier geht's zum ganzen Heft.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.