Jugendliche in einem Sprachlabor in den 1970ern

Linguam latinam disco

Die nach Deutschland kommen, sprechen Ukrainisch, Arabisch und Türkisch. Die in Deutschland zur Schule gehen, lernen Französisch, Spanisch und Latein. Warum?

Von Erik Hlacer
Thema: Bildung
24. März 2025

Linguam latinam disco. Ich lerne Latein. Mehr als eine halbe Million Schülerinnen und Schüler in Deutschland verstehen diesen Satz. Dabei wird Latein nicht mehr gesprochen. Außer in Vatikanstadt und an deutschen Schulen, wo Latein noch immer die drittbeliebteste Fremdsprache ist. Warum eigentlich?

Befürworter sagen, mit Latein lerne man das Lernen. Gemeint ist: Übersetzen Schülerinnen und Schüler lateinische Texte, lernen sie, systematisch Probleme zu lösen. Schritt für Schritt entschlüsseln sie Sätze und bringen so Ordnung ins Chaos.

Außerdem vertiefe Latein andere Schulfächer. Wer lateinische Texte übersetzt, verstehe die deutsche Grammatik besser. Die römische und griechische Kultur reichert das Geschichtswissen an, und wer die antike Literatur von Cicero und Homer wälzt, setzt sich mit den philosophischen Fragen des Menschseins auseinander. So die Argumentation vom Altphilologenverband und sogenannten altsprachlichen Gymnasien. 153 gibt es in Deutschland. Sie unterrichten neben Latein auch Altgriechisch und sind seit Jahren der Kritik ausgesetzt, die Bildungselite bleibe dort unter sich.

Über 150 Schulen in Deutschland bieten Altgriechisch als Unterrichtsfach an – aber nur 128 Türkisch

Galina Putjata teilt diese Kritik. Sie forscht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zu sprachlicher Schulbildung und migrationsbedingter Mehrsprachigkeit – und fordert ein Umdenken beim Fremdsprachenangebot. Putjata sagt: „Alle Kinder sollten gleichberechtigt an der Schule teilhaben können.“ Nur sei es nicht damit getan, dass alle Kinder zur Schule gehen: Wirklich gleich sei erst, wessen kulturelles Kapital voll anerkannt wird, und zu dem zähle auch die Familiensprache. „Sprachen wie Englisch, Französisch und Latein haben einen hohen Wert. Den unterstreichen wir, indem wir Noten vergeben“, sagt Putjata. „Andere Sprachkenntnisse wie Türkisch oder Arabisch stehen dafür nicht mal auf dem Zeugnis.“

In Deutschland leben knapp drei Millionen türkischstämmige Menschen, darunter mehr als 400.000 im schulpflichtigen Alter. Bundesweit bieten aber nur 128 weiterführende Schulen Türkisch im Regelbetrieb an – weniger als Altgriechisch also.

Ob sie eine neue Fremdsprache anbietet, kann eine Schule nicht alleine entscheiden: Die Landesregierungen und Kultusministerien müssen die Einführung vorher beschließen. Aus dem hessischen Kultusministerium heißt es beispielsweise, der entscheidende Faktor für eine neue Fremdsprache sei, wie viele Menschen außerhalb Deutschlands die Sprache sprechen. Türkisch gelte als regionale Sprache. Stattdessen wurden Arabisch, Chinesisch und Portugiesisch aufgenommen.

Darüber hinaus testen derzeit 17 hessische Schulen Ukrainisch- und zwei Schulen Türkischunterricht. Denn nicht immer landen neue Sprachen direkt im Regelbetrieb: Sogenannte Schulversuche sollen zeigen, wie sehr sich die Schülerinnen und Schüler für ein neues Fach interessieren.

Dominiert wird das Fremdsprachenangebot von Englisch, Französisch und Spanisch: Sprachen, die unter anderem so verbreitet sind, weil Großbritannien, Frankreich und Spanien große Kolonialmächte waren

Für Ukrainisch gibt es noch keine Zahlen, für Türkisch haben sich bislang 35 Schülerinnen und Schüler entschieden: ein bisschen mehr als eine Schulklasse in ganz Hessen. Dass die Nachfrage nicht höher ist, machen manche an den Schulversuchen selbst fest: Welche Eltern schicken ihre Kinder in Kurse, die es im nächsten Schuljahr vielleicht nicht mehr gibt?

Galina Putjata sieht ein weiteres Problem darin, dass der Unterricht oft am Nachmittag stattfindet. „Kein Wunder, dass Jugendliche kaum Interesse haben, in ihrer Freizeit teilzunehmen.“

Sie wünscht sich, dass die Schulen solche Testdurchläufe besser umsetzen. Dafür braucht es Lehrkräfte, die etwa Ukrainisch, Arabisch und Türkisch unterrichten. In Deutschland gibt es nur wenige Lehramtsstellen für solche sogenannten Herkunftssprachen. Die Universität Duisburg-Essen ist beispielsweise die einzige, die Türkisch auf Lehramt als vollwertiges Fach anbietet. Dominiert wird das Fremdsprachenangebot von Englisch, Französisch und Spanisch: Sprachen, die unter anderem so verbreitet sind, weil Großbritannien, Frankreich und Spanien große Kolonialmächte waren.

Französisch wird weltweit von mehr als 330 Millionen Menschen gesprochen. Spanisch von 560 Millionen. Ob für Reisen oder eine internationale Karriere – neben Englisch sind beide Sprachen vorteilhaft.

Wer in Deutschland arbeitet, profitiert womöglich eher von anderen Sprachen. Ein Sozialarbeiter kann einem Kind mit türkischen Wurzeln helfen, sich verstanden zu fühlen. Eine Polizistin kann bei einem Streit zwischen zwei Ukrainern besser vermitteln, eine Ärztin einem syrischen Patienten auf Arabisch erklären, dass sein Knöchel verstaucht ist.

Cover des fluter-Hefts Schule
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schule“.
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Titelbild: Guy Le Querrec / Magnum Photos / Agentur Focus