Illustration einer bunten Postkarte

Schule meines Lebens, Teil 1

Erst hat unser Autor Herrn Hasse nicht verstanden, dann nie wieder vergessen

Von Nik Afanasjew
Thema: Bildung
24. März 2025

Es begann mit der Flöte. 1993, ich war zehn und mit meiner Mutter aus Russland ins Ruhrgebiet eingewandert. Mein Klassenlehrer Herr Hasse war ein Hüne mit schütterem Haar und Märchenonkel-Lächeln. Er führte mich durch das große graue Gebäude der Grundschule in Recklinghausen. Ich nickte eifrig jedes seiner Worte ab und hoffte, mit der Nummer durchzukommen: Ich verstand nichts. Irgendwann drückte mir Herr Hasse eine Flöte in die Hand.

In unserer Einzimmerwohnung betrachteten meine Mutter und ich die Flöte wie ein Relikt einer fremden Zivilisation. Irgendwie war sie das auch. In Russland hatte es Frontalunterricht gegeben, keine selbstständigen Schülerinnen und Schüler, die zu Hause mit Unterrichtsmaterialien rumprobieren durften. Statt um Musik ging es aber ohnehin erst mal um mein nicht vorhandenes Deutsch. In meinem ersten Diktat beschrieb ich Delfine als „die gluksten fiere“. Ich machte 69 Fehler. Herr Hasse setzte einen fröhlichen Smiley darunter und schrieb: „Die Arbeit wird noch nicht bewertet!“

Einmal kam Herr Hasse zu uns nach Hause. Er nippte am Tee, den meine Mutter ihm hingestellt hatte, und fragte, woher genau wir stammen. „Tscheljabinsk“, sagte sie. Herr Hasse schaute auf: Da habe es doch 1957 dieses schreckliche Atomunglück gegeben. „Sie beide sehen aber ganz munter aus.“ 

Meine Mutter war baff. Der nukleare Unfall, der drittschwerste in der Geschichte der Menschheit, war von den russischen Behörden totgeschwiegen worden, wir hatten als Familie im verseuchten Gebiet Urlaub gemacht. In Deutschland wusste ein Grundschullehrer mehr darüber, was vor unserer Haustür passiert war, als wir selbst. 

Als ich später einem Jungen auf dem Schulhof mit dem Fußball die Brille kaputt schoss, klingelte dessen Vater bei uns, ein wütender Punk mit Irokesenschnitt. Er sagte irgendetwas von „Versicherung“. Natürlich hatten wir keine. Ich trieb ihn aus der Wohnung. Herr Hasse half schließlich, den Punk-Papa mit Ratenzahlungen zu befrieden. In der Schule gab er mir nachmittags Deutschnachhilfe, meine Fehlerzahl sank, ich bekam endlich Noten, wenn auch noch keine guten.

Ich war gerade mal ein Jahr bei Herrn Hasse. Es war eine Zeit, in der ich nicht nur eine Sprache lernen musste, sondern vor allem, für mich einzustehen. Herr Hasse wurde dabei zu einem Mentor. Seine Idee mit der selbstständigen musikalischen Früherziehung hat aber nie gezündet. Die Flöte liegt seit jeher in meinem Schrank. Als Erinnerung.

Cover des fluter-Hefts Schule
Dieser Artikel ist aus dem fluter „Schule“.
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Illustration: Animationseries2000