Zwei Touristen in Radlerhosen laufen die Uferpromenade von Mytilini auf der Insel Lesbos entlang: „Herrlich“, sagt der eine, „wunderbar“ der andere. Vor ihnen kräuselt sich das Mittelmeer in der Morgensonne. Hinter ihnen liegt ein junger Mann aus Sierra Leone auf einer Schaumstoffmatratze, die ihm nur bis zu den Kniekehlen reicht. Am Ende der Straße wartet das Tsamakia Beach Resort auf sie. Auf dem Badesteg leuchten noch die Feuerwerksknaller der gestrigen Hochzeitsfeier wie buntes Konfetti. Das drei Kilometer Luftlinie entfernte Flüchtlingslager Moria scheint hier weit weg.
11.000 Geflüchtete warten auf Lesbos auf ihren Asylbescheid
Während die Touristen in einer Woche wieder in den Flieger oder die Fähre steigen können, um auf das Festland überzusetzen, bleiben über 11.000 Geflüchtete auf der griechischen Ferieninsel zurück. Rund 8.800 von ihnen leben auf dem ehemaligen Militärgelände Moria in alten Schiffscontainern, dünnen Zelten und unter Plastikplanen. Das sind fast dreimal so viele, wie das provisorische Flüchtlingslager eigentlich aufnehmen kann. Diejenigen, die keinen Platz mehr haben, rollen ihre Isomatten in umliegenden Olivenhainen oder am Straßenrand aus.
Seit dem EU-Türkei-Abkommen im März 2016 müssen Asylsuchende so lange auf der Insel ausharren, bis entschieden wird, ob sie in Griechenland bleiben dürfen oder ob die Türkei für sie ein sicheres Drittland ist – und sie dorthin zurückmüssen. Erst dann können sie auf das griechische Festland übersetzen. Wegen Protesten von Inselbewohnern und Geflüchteten im Frühling dieses Jahres und der Überfüllung des Camps kündigte der griechische Migrationsminister Dimitris Vitsas Anfang Juli an, bis September die Zahl der Menschen, die auf den Ägäischen Inseln festsitzen, zu halbieren. Umgesetzt wird dieses Ziel nur zögerlich – auch weil immer neue Menschen per Boot auf der Insel ankommen. Anfang Oktober begannen die griechischen Behörden damit, besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, zum Beispiel Kranke und Minderjährige, zu evakuieren.
Fadi und Saboor warten seit acht Monaten auf ihren Bescheid. Die beiden Freunde sitzen auf den steinernen Treppenstufen der Freiheitsstatue an der Hafeneinfahrt von Mytilini. Beide sind 17 Jahre alt, sie stammen aus dem Bamiyan-Tal in Afghanistan. Bis vor zwei Monaten waren sie noch in Moria, dann konnten sie in eine Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge in Mytilini umziehen. „In Moria war es zu gefährlich für uns“, sagt Fadi, „es gab jeden Tag Schlägereien.“ Und wie geht es ihnen jetzt? „Wir warten“, sagt Saboor, „aber“, er lacht, „immerhin können wir jetzt wieder Zähne putzen mit frischem Wasser.“ Im Auffanglager von Moria wird sogar das zum Problem.
Schon an dem stacheldrahtumwundenen Eingang des Lagers erkennt man einen Ort, der niemanden willkommen heißen will. Rund 70 Menschen teilen sich auf dem Gelände eine Toilette, der Müll schwimmt in kleinen Rinnsalen die umliegenden Hügel hinunter, überall stehen verrostete Rohre aus dem Boden und lassen das Abwasser ins Camp und auf die umliegenden Felder sickern. Reporter dürfen hier offiziell nicht mehr hinein.
„Sie können die Traumata hier nicht aufarbeiten und kommen daher psychisch an ihre Grenzen“
„Die meisten Flüchtlinge wurden schon in ihrer Heimat oder auf der Flucht stark traumatisiert“, sagt Anne Vonk, freiwillige Psychotherapeutin bei einer niederländischen Nichtregierungsorganisation. „Sie können die Traumata hier nicht aufarbeiten und kommen daher psychisch an ihre Grenzen.“ Nach den Aktivitäten, die sie als Organisation anbieten, würden viele Kinder nicht mehr zurück in ihr vorläufiges Zuhause wollen. „Sie bleiben einfach auf ihren Stühlen sitzen, weil sie Angst haben vor der Nacht im Lager.“ Schon letztes Jahr warnte Ärzte ohne Grenzen, dass die Zahl der Behandlungen wegen schwerer psychischer Probleme um etwa 50 Prozent zugenommen habe.
Die NGOs auf der Insel fordern die griechische Regierung auf, die Menschen so schnell wie möglich auf das Festland zu bringen. Sie fürchten, dass die Menschen auch diesen Winter wieder ohne Heizung, feste Unterlage oder warmes Wasser auf der aufgeweichten Erde hausen müssen. Jedes Jahr scheint es die griechischen Behörden erneut zu überraschen, dass der erste Schnee fällt, Zelte einbrechen und wie im letzten Jahr Menschen unter ihren Plastikplanen erfrieren.
Christiana Kalogirou, Regionalpräfektin der nördlichen Ägäis, gab den griechischen Behörden bis Mitte Oktober Zeit, im Camp aufzuräumen. Wenn die katastrophalen Missstände nicht beseitigt würden, werde sie das Lager auflösen lassen. Inspektoren der kommunalen Gesundheitsbehörden auf Lesbos hatten den Zustand für „gefährlich für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt“ befunden. Doch was mit den Menschen vor Ort passieren soll, das weiß keiner genau. Viele sehen dies als leere Drohung an.
Heute sitzen diejenigen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, im hinteren Bereich des Moria-Camps fest, der mit mehreren Rollen Stacheldraht gesichert ist. Doch es sind nicht mehr nur Flüchtlinge, die sich nach ihrer Flucht auf einmal im Gefängnis wiederfinden. Die zivilen Helfer stehen immer mehr im Scheinwerferlicht der Behörden. Auf Lesbos standen im Mai drei spanische Feuerwehrleute wegen Menschenschmuggels vor Gericht. Sie hatten als Seenotretter gearbeitet.
Immer wieder werden Flüchtlingshelfer festgenommen und des Menschenschmuggels bezichtigt
Drei Monate später wurde die syrische Helferin Sarah Mardini, 23, auf Lesbos festgenommen und sitzt seither, wie auch mehrere andere Mitarbeiter der Flüchtlingshilfsorganisation ECRI, in Untersuchungshaft. Vor zwei Jahren noch als Heldin gefeiert, weil sie auf ihrer eigenen Flucht von Syrien nach Europa ein Boot voller Flüchtlinge schwimmend an Land gezogen hatte, wird ihr heute unter anderem Menschenschmuggel und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Mardini bestreitet alle Vorwürfe, die von der griechischen Justiz gegen sie erhoben werden. An vielen der Tage, die von der Polizei genannt werden, um sie des Menschenschmuggels zu bezichtigen, sei sie nicht einmal auf Lesbos gewesen. Professoren des Bard College Berlin haben Anwesenheitslisten an ihren griechischen Anwalt geschickt, um Mardinis Aussage zu bezeugen. Während die Feuerwehrleute nach zwei Monaten wieder freigesprochen wurden, lehnte das griechische Gericht Mardinis ersten Einspruch ab.
Es wird Abend in Moria. Eine ältere Frau aus Kunduz, Afghanistan, rutscht auf ihren Flip-Flops den Abhang zur Wasserstelle hinunter. Der Müll wurde seit Tagen nicht mehr abtransportiert, sagt sie. Hinter ihr steht ihr Sohn, seit Wochen zuckt er mit den Augenbrauen, redet mit sich selbst. Manchmal winkt er stundenlang der Sonne entgegen. „Irgendwann sind wir in Sicherheit“, sagt sie. Hier, mitten in Europa, sind sie es noch nicht.
Titelbild: Guy Smallman / eyevine / laif