Thema – Identität

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No Land’s Man

Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Staatsangehörigkeit, das steht sogar in den UN-Menschenrechten. Leonardo Stefan ist in Deutschland geboren und aufgewachsen – und hat trotzdem keine

Staatenlos

Leonardo Stefan spricht Deutsch, ist in Deutschland geboren und hat sein ganzes Leben in Deutschland gewohnt. Staatenlos fühlt sich der 25-Jährige nicht. Und trotzdem stutzen die Leute, wenn er bei einem Jobinterview, im Hotel oder am Flughafen seinen Ausweis vorlegt: Wo bei anderen die Staatsangehörigkeit angegeben ist, steht bei Leonardo Stefan: XXX.

Dass Leonardo solche Situationen kennt, macht es nicht leichter. „Bis man das jemandem erklärt hat und bis der das dann versteht … das dauert und ist oft peinlich.“

„Ich bin doch hier geboren. Was bitte soll das heißen, staatenlos?“

Leonardo ist Rom, also Angehöriger der ethnischen Minderheit der Rom*nja, und besitzt keine Staatsbürgerschaft. Auch seine Frau, die beiden haben drei Kinder, ist staatenlos. Unter Rom*nja und Sinti*zze ist dieser Status gar nicht so ungewöhnlich. Zum Beispiel, weil die Nazis nach den sogenannten Rassengesetzen von Nürnberg vielen Familien die Staatsangehörigkeit einfach aberkannt haben. Eine Diskriminierung, die bis heute nicht rückgängig gemacht, geschweige denn entschädigt wurde. Ein anderer Grund ist der Zerfall früherer Staaten wie etwa Jugoslawien nach 1991: Als es ihre Heimatländer offiziell nicht mehr gab, waren viele Jugoslaw*innen faktisch staatenlos.

Leonardos Vater war deutscher Staatsbürger. Obwohl Leonardo deshalb ebenfalls Anspruch auf einen deutschen Pass gehabt hätte, bekam er als Kind lediglich eine zehnjährige Aufenthaltsgenehmigung. Leonardo vermutet, dass es am fehlenden Vaterschaftsnachweis scheiterte. Sein Vater habe schlicht nicht gewusst, dass er den dem Antrag hätte beilegen müssen.

1954 beschlossen die Vereinten Nationen ein „Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen“. Seitdem gelten „Personen, die kein Staat aufgrund seines Rechtes als Staatsangehörige ansieht“ als staatenlos. Unterschieden werden sie noch mal in anerkannt Staatenlose und faktisch Staatenlose. Denn Staatenlosigkeit ist ein Status, der beantragt und von einer deutschen Behörde festgestellt werden muss. Anerkannt Staatenlose erhalten den sogenannten Staatenlosenausweis, der auch im Titelbild zu sehen ist. Leonardo hat als faktisch Staatenloser einen Reiseausweis für Ausländer, in dem statt einer Staatsangehörigkeit nur XXX steht

Die Aufenthaltsgenehmigung lief ab, als Leonardo 16 war. Seitdem hat er den Pass, in dem statt eines Herkunftslandes nur die drei X stehen: einen Reisepass für Ausländer. Die vergeben Ämter, solange ungeklärt ist, ob in anderen Ländern vielleicht noch ein Anspruch auf Staatsangehörigkeit besteht.

Auch wenn die Optionen „staatenlos“ oder „nicht geklärte Staatsangehörigkeit“ oft auf Formularen fehlen: Mit dem Reisepass für Ausländer kann Leonardo sein Leben organisieren, Konten führen, Reisen, eine Wohnung mieten. Aber Wählen darf er als Nicht-Staatsbürger natürlich nicht. Und der Pass muss alle zwei bis drei Jahre neu beantragt werden. Das wird regelmäßig zum Behördenmarathon, erzählt Leonardo. Bis der Ausweis da ist, bekommt er sogenannte Fiktionsbescheinigungen. „Letztes Mal hab ich eine Woche lang herumtelefoniert, bis die endlich kam.“ Schließlich hätte er ohne sie gar keine Papiere, könnte theoretisch sogar abgeschoben werden.

Leonardo hat früh versucht, einen deutschen Pass zu bekommen. Mit sechzehn, beim ersten Anlauf, wurde ihm im Amt abgeraten. „Die haben gesagt, wegen irgendeines Paragrafen wäre es unwahrscheinlich, dass es mit dem deutschen Pass klappt“, erinnert sich Leonardo. Er sollte es stattdessen lieber mit der polnischen Staatsbürgerschaft versuchen, schließlich kämen seine Großeltern aus Polen. Verstanden hat er das damals nicht, sagt Leonardo. Er beantragte die deutsche Staatsangehörigkeit – und wurde abgelehnt.

Staatenlosigkeit soll kein Dauerzustand sein – aber Beratung bekommen Staatenlose selten

Wer deutscher Staatsbürger werden will, muss bestimmte Kriterien erfüllen. Zum Beispiel ausreichend Deutsch können, einen Einbürgerungstest bestehen und sich zum Grundgesetz bekennen. Das offizielle Dokument, das seine Ablehnung begründet, habe er nicht mehr, sagt Leonardo. Er vermutet heute, dass der Antrag womöglich abgelehnt wurde, weil er vorbestraft war. „Eine Jugenddummheit“, sagt er und knetet die Hände. „Ich hatte mit 13 was geklaut.“ Abgelehnt werden dürfen Antragsteller*innen laut Gesetz nur bei einem bestimmten Strafmaß, zum Beispiel Geldstrafen über 90 Tagessätze. Leonardos Strafe lag darunter. Ob es wirklich daran lag, oder an einer anderen Voraussetzung, die er nicht erfüllt hat, kann er nicht mehr nachvollziehen. Angefochten hat er die Ablehnung damals nicht, weil er nichts von den Regelungen wusste.

Mihael Ritter kennt etliche solcher Geschichten. Viele Staatenlose wie Leonardo seien nicht gut informiert über ihre Rechte als Antragsteller*innen, sagt Ritter. Wenige würden hinterfragen, was ihnen von Ämtern mitgeteilt wird. Vor allem, weil sie nicht wüssten, wie. Mihael Ritter hat als Sinto selbst jahrelang um eine Staatsbürgerschaft gekämpft. 2019 gründete er den Verein Roma und Sinti e.V., der eingewanderte Rom*nja und Sinti*zze bei der Integration unterstützt. Heißt im Alltag: beim Ausfüllen von Dokumenten helfen, zu Ämtern begleiten, Rechtsbeistand organisieren, aber auch Jugendarbeit. Der Verein bietet beispielsweise ein Boxtraining an. Rund 500 Mitglieder hat der Verein heute im Großraum Köln.

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Mihael Ritter und Leonardo Stefan
Zwei wie wir: Leonardo (rechts) mit Mihael Ritter. Ritter wurde in Hessen geboren und lebte 17 Jahre mit einer Duldung. Er sollte Deutschland also verlassen, konnte aber nicht abgeschoben werden. Ritter versuchte immer wieder, deutscher Staatsbürger zu werden. Seine Anträge wurden abgelehnt. Seit 2012 ist Ritter serbischer Staatsbürger, vor zwei Jahren gründete er einen Verein, um Sinti und Sintize, Roma und Romnja bei der Integration zu helfen

Ritter und seine Kolleg*innen haben täglich mit den Problemen und dem Frust zu tun, die viele der 26.000 staatenlosen Menschen teilen, die laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Deutschland leben. Auch weil andernorts die Kompetenz fehlt, um sie zu beraten. „Fachanwälte für Ausländerrecht sagen mir: ‚Herr Ritter, wir lassen die Finger davon‘“, sagt er. „Auch die ‚Beratung‘“ – Ritter malt zwei Anführungszeichen in die Luft – „der Ausländerbehörden ist ungenügend.“ Im Alltag gebe es häufig Probleme mit Sacharbeiter*innen. Viele hätten Vorurteile, seien deshalb unfreundlich. Weshalb manche Staatenlose auch gar nicht mehr versuchen, ihren Status zu ändern.

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Dabei soll Staatenlosigkeit in Deutschland eigentlich kein Dauerzustand sein: Wer durch die Ausländerbehörde genehmigt acht Jahre im Land lebt, dem steht die deutsche Staatsbürgerschaft zu (oder zumindest eine Niederlassungserlaubnis, also ein unbefristeter Aufenthaltstitel ohne deutsche Staatsbürgerschaft). Es gibt allerdings Bedingungen für diesen Anspruch: Die Antragsteller*innen müssen ihren Unterhalt selbst sichern können, also ohne Sozialhilfe zu empfangen.

Leonardo wollte nach seinem Hauptschulabschluss eigentlich eine Ausbildung zum Handwerker machen, zum Installateur für Sanitäranlagen. Im Bewerbungsgespräch habe es ewig gedauert, seinen Status zu erklären, erzählt Leonardo. Das Gespräch sei schleppend gelaufen, aus der Ausbildung wurde nichts. Danach hat er lange gekellnert. Seine Familie konnte er damit nicht immer durchbringen. Deshalb wurde auch sein zweiter Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft abgelehnt.

Die finanzielle Unabhängigkeit als Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft führt Antragssteller*innen wie Leonardo oft in eine absurde Schleife: Ohne unbefristete Aufenthaltsgenehmigung sind kaum sichere und gut bezahlte Anstellung zu finden. Wer keine hat, ist selten finanziell unabhängig – bekommt also wiederum nur befristete Aufenthaltsgenehmigungen.

Vor kurzem hat sich Leonardo mit einer Teppich- und Fassadenreinigung selbstständig gemacht. Deutschland bleibt seine Heimat, aber eine auf Zeit. Die deutsche Staatsbürgerschaft wünscht er sich vor allem, um nicht ständig in Erklärungsnot zu geraten. Und weil er sich mit den offiziellen Bezeichnungen schlichtweg nicht gemeint fühlt: Leonardo stellt sich nicht als Ausländer oder Staatenloser vor, sondern zuerst als Rom, dann als Deutscher. Er und seine Familie hätten keine Bindung zu einem anderen Land, sagt er. „Ich bin doch hier geboren. Was bitte soll das heißen, staatenlos?“

Fotos: Julia Sellmann

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