Freitagabende sind ruhig im bayerischen Aichach. Gut 22.000 Einwohnerinnen und Einwohner, ganz knapp keine Kleinstadt mehr. Was soll man da schon erwarten.
An diesem Abend im Sommer 2023 ist es anders. Aus der ganzen Umgebung sind sie angereist, aus Kühbach, Hollenbach, Schiltberg und den Nestern dazwischen, und nun drängeln sich gut 1.000 junge Leute vor der Open-Air-Bühne auf dem Parkplatz des Clubs „m-eins“, zwischen Gewerbegebiet und Bundesstraße 300.
Auf der Bühne steht ein junger Mann in Lederhose und mit weiß-blau kariertem Halstuch, 26 Jahre alt, hochgewachsen, dunkle Haare, Undercut. Tream ist Deutschlands erster Schlagerrapper oder nennt sich zumindest selbst so. Mit ihm auf der Bühne: DJ Phiphi, ein alter Klassenkamerad, und sein Freund Bollog, der im Hintergrund rappt. Backstage wartet eine ganze Reihe von Freunden aus seinem Heimatdorf.
„Ich weiß, dass euch Social Media wichtig ist“, ruft Tream in breitestem Bayerisch von der Bühne. „Aber wisst ihr was? Da geht es nur darum, wie man aussieht. Wisst ihr, was ich davon halte?“ Kurze Pause. „Einen Scheiß halt ich davon!“
Tream zieht das Hemd nach oben, entblößt einen kleinen Bierbauch. Und rappt weiter.
Die Wampe, sie sitzt, egal wo ich bin, Gang-Life
Ich komm mit der Clique und mach ihr ein Kind, Gangsigns
Vom Weiher, ich kipp nur Weizen, bin dicht, Best Life
Aus den Lautsprechertürmen dröhnen harte Beats, eine Mischung aus Rap, Partyschlager und Elektro. Tream rappt vom 3er-BMW, der Fahrt mit drei Promille durchs Dorf und von Sex hinter dem Bierzelt. Bayernklischees, die wie alle Klischees immer mindestens ein bisschen wahr sind. „Sie ist dumm, aber dafür gut zu schebbern, Oida.“ Das röhren sogar die Frauen mit. Sexismus? Egal. Hier ist nicht München und schon gar nicht Berlin. „Prost, ihr Säcke!“ – „Prost, du Sack!“ – „Auf die Weiber!“ – „Zack, zack, zack!“
Frauen, Geld, Drogen, im Rap sind das vertraute Themen. Im Partyschlager auch: Dort sind die Texte nicht unbedingt sanfter, nur die Tonlage. Die Verbindung von Rap und Schlager ist nicht neu. Shirin David sang mit Helene Fischer, Apache 207 mit Udo Lindenberg, Bushido mit Karel Gott und Ski Aggu mit Otto Waalkes. Das Konzept hat Tradition, Tream macht es zu seinem Markenkern.
Damit hat er Erfolg. Seit zweieinhalb Jahren laufen die Fans Tream zu, nicht nur in Aichach. Seine Touren sind ausverkauft, mühelos füllt er die größten Hallen des Landes. Wer ist dieser Mann? Und was schätzen seine Fans an ihm?
Tream, Timo Grabinger mit bürgerlichem Namen, lebt in Büchelkühn an der Naab. Rund 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner, Einfamilienhäuser, große Gärten, Obstbäume, Pferdekoppeln, Holzbalkone, Geranien. Bayerische Idylle. Und mittendrin der Landgasthof Grabinger, geführt in vierter Generation.
Vater Grabinger, Mitte 50, steht am Tresen des Landgasthofs. Er poliert Gläser und sagt „Grüß Gott“ mit dieser strengen Herzlichkeit, die nur Wirtsleute beherrschen. Gäste sind noch keine da, die Oma und die Stiefschwester sitzen am Tisch, drei Hunde liegen auf dem Boden. Timo betritt den Gastraum, er trägt das blau-weiße Tuch, sein Markenzeichen, zapft sich ein Weißbier, nimmt es mit auf die Hotelterrasse und zündet sich eine Zigarette an. Ein freundlicher junger Mann, schüchtern fast. Kann losgehen.
Wie alles begann? Irgendwann 2014. Timo geht in die Zehnte, Realschule. Er hört Shindy im Schulbus, er will auch Rapper werden, und er meint es ernst. Heißt für ihn: Schule abbrechen, ab jetzt nur noch Musik. „Das musst du dir mal vorstellen“, sagt Timo heute, „ein halbes Jahr vor dem Abschluss, das war schon sehr dumm.“ Er lacht.
Sein Vater war logischerweise nicht begeistert.
„Dabei war ihm Musik immer sehr wichtig. Er war der Grund, weshalb ich Gitarre gelernt habe“, erzählt Timo. Der Deal: Wenn er schon die Schule abbricht, muss er wenigstens eine Ausbildung machen. Er holt den Mittelschulabschluss nach und beginnt eine Ausbildung zum Koch.
Aber Timo und die Küche, das passt nicht. „Ich ziehe meinen Hut vor jeder Köchin und jedem Koch, aber für mich war das auf Dauer nichts.“ In seiner Freizeit stellt er die ersten Songs ins Internet, dreht Videos, nennt sich Tream: Timos Dream, ganz einfach. Aber seine Karriere als Rapper will erst mal nicht zünden.
Er muss Zeit gewinnen, macht nach der Lehre das Fachabitur und schreibt sich an einer privaten Hochschule in München ein. Fachrichtung: Music Business. „Ganz andere Welt“, sagt Timo. Warm werden er und diese Welt nie miteinander: Großstadt ist nicht sein Ding, das Studium läuft so mittel, dazu die Pandemie. Wann immer es geht, fährt Timo zurück nach Büchelkühn.
Hier ist er aufgewachsen, hier sind seine Freunde, hier ist seine Familie. Alle sprechen denselben Dialekt, alle lachen über die gleichen Witze. Hier kann Timo angeln, hier kann er mit seinen Freunden im Gartenhaus sitzen. Er muss niemand sein, er ist schon jemand. Und da dämmerte es ihm: „Ich dachte mir: Warum schreibe ich Lieder über Dinge, von denen ich keine Ahnung habe? Warum schreibe ich nicht ein Lied über das, was ich wirklich mache?“
In „Lebenslang“ erzählt Timo von Freunden, die für immer bleiben, vom Bier, das sie zusammen trinken, und von der Heimat. Kurz: vom Leben und dem Zusammenhalt in der Provinz.
Bin in mei’m Dorf und ich bleib’
Wir hab’n den heißeren Scheiß
B-B-Bayern go high
Ich bin nie wieder allein
Der Song ist sein Durchbruch. Für viele Musikerinnen und Musiker wäre das der Moment für einen Plattenvertrag. Nicht für Tream, aus Prinzip: Tream wird ein Familienunternehmen, so wie das Hotel seines Vaters eines ist. Auf Tour begleiten ihn seine Freunde. Sie bauen die Bühne auf, machen den Soundcheck und legen auf – obwohl sie alle eigene Jobs haben.
Wie das funktioniert? „Ja mei, der eine studiert, das ist ganz praktisch, der andere ist gerade arbeitslos, auch praktisch“, sagt Timo, ein bisschen verschämt. „Und alle anderen, mei, die sind dann halt mal a bissl krank.“
In der Welt von Tream geht es nicht um Migrationsfragen oder Queerfeminismus, sensible Sprache gibt es nicht. Er macht Musik für die vielen Menschen, die nicht an jeder politischen Diskussion teilhaben müssen, zumindest nicht an denen, die in den urbanen Bubbles geführt werden. Musik für die, die sich nicht mit ihrer Weltgewandtheit profilieren wollen.
„Ich bin auch aus einem Dorf mit 500 Einwohnern, da hat man einfach andere Themen“, sagt Annika. Sie ist 28, lebt mittlerweile in Hamburg und hat Tream schon zweimal live gesehen. „Und die ländlichen Probleme, zum Beispiel der Milchpreis, werden zu wenig behandelt“, sagt sie. Das sei in der Politik nicht anders als im Deutschrap. „Generell fühlt man sich auf dem Land oft außen vor.“
Spricht man mit anderen Fans, kommt einem Treams Musik vor wie eine große Rückbesinnung: auf die Heimat, auf den engsten Kreis. Eine Welt, in der nicht jeder Streit ausgetragen wird, sondern einfach mit ein, zwei, drei, vier Bier runtergeschluckt werden kann. Wenn Tream die bayerische Provinz besingt, besingt er eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit, ein Gefühl von Heimat ohne überzogenen Patriotismus und geschlossene Grenzen.
Ein paar Wochen später, ein Donnerstagabend weit weg von Bayern. Während sich in Dortmund die Konzerthalle füllt, trinkt Timo backstage einen großen Schluck Wasser. Ohne Kohlensäure und auf Zimmertemperatur, das ist seinem Bruder Jan wichtig. Auf dieser Tour muss Timo sich und seine Stimme schonen: weniger Bier, weniger Zigaretten. „Heute muss ich wieder Hochdeutsch sprechen, oder?“, fragt Timo in die Runde. Zustimmendes Nicken. „Streng dich halt ein bisschen an, ordentlich zu sprechen, ganz bekommst du es eh nicht raus“, sagt Jan.
Der Vorhang geht auf, eine bayerische Wirtshauskulisse erscheint. Eine Bierbank, ein Gerstenstrauß, Heuballen, ein Holzschild mit der Aufschrift „Gasthof Kaspar Grabinger“, benannt nach Timos Ururgroßvater. Vom ersten Song an hat er das Publikum, alle singen mit. Aber Tream ist nicht nur hier, um zu singen. „Wir sind heute nicht ganz vollzählig, eigentlich wäre auch unser Freund Bollog dabei. Der hat für heute nicht freibekommen, er ist nämlich Maurer“, erzählt Timo. „Aber sagt’s mal, sind hier im Publikum noch andere Maurer?“ Einige Fans heben die Hand, andere applaudieren.
Dieser Text ist im fluter Nr. 93 „Rap“ erschienen
Dann erzählt Timo von seinem Vater, der hinterm Tresen schuftet, von sich und seiner Ausbildung zum Koch. Sein Publikum hört aufmerksam zu. „Und jetzt sagt’s mal, wer von euch arbeitet auch im Handwerk?“ Hunderte Hände gehen in die Luft, der Applaus wird lauter. Wer ist Bauer? Wer kommt aus dem Dorf? Jetzt sind fast alle Hände in der Luft, der Applaus hört gar nicht mehr auf.
Vielleicht ist es das, was Tream so erfolgreich macht. Er bleibt vermeintlich unpolitisch, zumindest geht es bei ihm nicht darum, was schlecht läuft in diesem Land. Er kritisiert nicht, er lobt. Er bewegt sich zwischen Stadt und Land, holt die Leute da ab, wo sie stehen, kann eine Seite einnehmen, ohne die andere anzugreifen. Und dann fängt er auch schon wieder an zu singen.