Der 24. Februar 2022 ist ein historisches Datum. Es ist der Tag, an dem russische Truppen in die Ukraine eingefallen sind und einen Krieg begonnen haben. Doch der Angriff war schon im Gange, bevor der erste Panzer über die Grenze rollte. Bereits Tage zuvor hatten Hacker:innen, mutmaßlich des russischen Geheimdiensts, es bei Angriffen geschafft, mehrere Webseiten der ukrainischen Regierung und anderer staatlicher Einrichtungen zu stören und die Kommunikation des Militärs enorm zu beeinträchtigen. Ein koordinierter Widerstand der ukrainischen Truppen sollte so unmöglich gemacht werden.
Und auch auf die ukrainische Öffentlichkeit gab es bereits Attacken. Schon seit Jahren ist bekannt, dass Russland als Teil seines Propagandaapparats auch sogenannte Troll-Fabriken betreibt. Sie sollen Fake News im Internet verbreiten, um damit die öffentliche Meinung auf die Seite Russlands zu ziehen. Mit den Panzern rollte dann eine besonders massive Propagandawelle über die Ukraine; der „Microsoft Digital Defense Report 2022“ maß in den Wochen nach Kriegsbeginn einen Anstieg von 216 Prozent.
Der Überfall auf die Ukraine gehört zur neuen Form der „hybriden Kriege“, das schreiben auch die Autor:innen des „Digital Defense Report“. Denn längst verlaufen die Fronten nicht nur auf dem Boden und im Meer, sondern auch durch das Internet. Auch Smartphones können zu Waffen werden. Und deshalb schalten jeden Tag Zehntausende Ukrainer:innen ihre Laptops ein. Sie stellt Sasha Maslov, der selbst aus der Ukraine stammt, in seinem Fotoprojekt „Ukrainian Cyber Volunteers“ in den Mittelpunkt. Sie kämpfen für ihre Freiheit. Online. Einen Klick nach dem anderen.
Die Elfe: Maria
Eine von ihnen ist Maria, die ihren Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen kann. Sie stammt aus dem Osten der Ukraine und engagiert sich in einem Netzwerk aus Freiwilligen, die sich selbst „die Elfen“ nennen. Die Elfen stammen aus etwa einem Dutzend europäischer Länder, gegründet haben sie sich bereits im Jahr 2014 in Litauen, als Russland sich anschickte, die ukrainische Krim zu annektieren. Anfangs haben sie gegen prorussische Kommentare unter Artikeln oder auf sozialen Medien angeschrieben, für jede antieuropäische Parole antworteten sie mit einer proeuropäischen.
Inzwischen sind die Elfen gut koordiniert, es gibt Hierarchien, und jede Gruppe hat ihre Aufgaben und Ziele. Und auch ihre Taktiken wurden immer ausgefeilter. So melden sich beispielsweise ukrainische Frauen auf russischen sozialen Netzwerken und Datingplattformen an, um mit Soldaten in Kontakt zu treten und so an Informationen zu gelangen, vom Standort der Einheiten bis zu der Funktionalität der Armee. Oder sie versuchen gar, die Soldaten zum Desertieren zu überreden.
Maria überwacht für die Elfen mehrere Telegram-Kanäle und in Russland beliebte soziale Netzwerke wie VKontakte oder Odnoklassniki. Wenn sie und ihre Gruppe bemerken, dass in einer Region die Unzufriedenheit mit der russischen Regierung zunimmt, versuchen sie, diese durch Aufklärung weiter zu schüren – mit Sichtweisen jenseits von Moskaus Propaganda, etwa den Schätzungen des ukrainischen Militärs zu den Zahlen der Todesopfer auf russischer Seite. Die Onlinemissionen können Tage oder Wochen dauern, ohne garantierten Erfolg. Es ist eine langsame und systematische Arbeit, denn die russische Bevölkerung darf nicht bemerken, dass es sie gibt. „Unser Ziel ist es nicht, sie wütend zu machen oder unseren Schmerz auf sie zu übertragen“, sagt Maria. „Wir wollen sie zum Nachdenken bringen, sie davon überzeugen, dass sie von diesem Krieg nicht profitieren.“
Der Minister: Mykhail Fedorov
Während die Elfen unter dem Radar arbeiten, kennt die IT-Armee in der Ukraine jeder. Nur ein paar Tage nach Kriegsbeginn verkündete der ukrainische Minister für Digitale Transformation, Mykhail Fedorov, auf Facebook deren Gründung: Jede Hilfe sei willkommen. Es war das erste Mal, dass Regierungsvertreter ihre Bürger:innen aufforderten, sich an einem Cyberkrieg zu beteiligen.
Seine IT-Armee aus Freiwilligen ist zweigeteilt. Ein Teil agiert in der Öffentlichkeit. Er koordiniert sich über einen öffentlichen Telegram-Kanal mit 200.000 Abonnenten, hier postet das Ministerium regelmäßig Ziele. Gleich am ersten Tag rief es zum Beispiel dazu auf, DDoS-Angriffe auf große russische Konzerne wie Gazprom sowie auf regierungsnahe Medien durchzuführen. Bei DDoS-Angriffen werden Server gezielt mit so vielen Anfragen bombardiert, dass das System die Aufgaben nicht mehr bewältigen kann und im äußersten Fall zusammenbricht. An Feiertagen legte die IT-Armee auch schon mal die russische Version von YouTube lahm. Im Grunde sind solche Angriffe harmlos bis nervig, aber die Strategie dahinter ist eine ähnliche wie bei den Elfen. Die russischen Bürger:innen sollen spüren: Dieser Krieg betrifft auch sie.
Der Fachmann: Yegor Aushev
90 Prozent der Ziele aber, die die IT-Armee angreift, werden nicht veröffentlicht, sagt Mykhail Fedorov. Und dort, im Schatten, passiere der größte Schaden. Für diese Aufgaben setzt die Regierung auf ein Netzwerk aus IT-Fachleuten, denen sie vertraut. Einer davon ist Yegor Aushev.
Aushev ist Gründer einer Cyber-Sicherheitsfirma und als solcher gut in der Hackerszene vernetzt. Als die russischen Panzer über die Grenze rollten, postete er einen Aufruf auf Facebook, ihm in den digitalen Kampf gegen Russland zu folgen. Über hundert Bewerber:innen meldeten sich innerhalb der ersten 24 Stunden und erbeuteten mehrere Datenbanken mit privaten Infos über russische Militärs.
„Ich möchte, dass wir als Kämpfer in diesem Krieg betrachtet werden“, sagt Yegor Aushev. Seine Gruppe konzentriert sich auf das Abhören von russischer Kommunikation und das Auslesen von Datenbanken. Sie versuchen, alles herauszufinden, was für das ukrainische Militär von Nutzen sein könnte – bis hin zu den russischen Truppenbewegungen. Denn viele der russischen Soldaten trugen beim Einmarsch ihre Handys mit sich. „Das iPhone sendet etwa 200.000 Signale pro Stunde, und sie wussten nicht, dass wir sie auf diese Weise verfolgen konnten“, sagt Aushev.
Der Pionier: Tim Karpinsky
Dass sich die Ukraine an der digitalen Front überhaupt wehren kann, daran hat Tim Karpinsky einen bedeutsamen Anteil. „Man kann sagen, dass wir die Ersten waren, die aktiv eine ukrainische Cyberabwehr aufgebaut haben“, erinnert er sich. „2014 gab es in der Ukraine keine Cyberabwehr in den staatlichen Strukturen, nicht einmal im Inlandsgeheimdienst.“ Das führte im Jahr 2015 dazu, dass eine Hackergruppe mit Verbindungen zum russischen Militärgeheimdienst Teile des ukrainischen Stromnetzes lahmlegen konnte. Im April 2022 versuchte es dieselbe Hackergruppe noch einmal – diesmal hielt das Stromnetz stand.
Karpinsky war 2016 einer der Gründer der Ukrainischen Cyber-Allianz, einem Verbund von Hacker:innen, der als NGO registriert ist. Die Cyber-Allianz bekommt kein Geld vom Staat. Karpinsky sagt: „Wir suchen uns unsere Aufgaben selbst und definieren unsere eigenen Ziele.“ Initiativen wie diese zeigen, wie Freiwillige Lücken füllen, die von der Regierung (noch) nicht geschlossen wurden.
Der Werbeprofi: Dmytro Nalbat
So wie auch Dmytro Nalbat. Vor dem Krieg arbeitete er für einen Online-Glücksspielanbieter, seine Aufgabe: die Facebook-Werberichtlinien umgehen, damit verbotene Anzeigen trotzdem gezeigt wurden. Diese Erfahrung setzt er nun dafür ein, im russischen Teil von Facebook Anzeigen über die Auswirkungen der russischen Invasion auf sein Land zu platzieren.
Am Anfang rief er darin die russischen Facebook-Nutzer:innen auf, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Dann richteten sie sich an russische Mütter, damit diese die Regierung auffordern, ihre Kinder zurück nach Hause zu bringen. Seine Anzeigen zeigten sogar tote russische Soldaten. Zu Dmytro Nalbats Überraschung sei die häufigste Reaktion der russischen Bevölkerung darauf gewesen: „Warum ist das in meinem Feed?“ Die Menschen lehnten seine Inhalte als Fake News oder Erfindungen ab, sagt er. „Die Propagandamaschine funktioniert dort wirklich.“