Thema – Ukraine

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„Ein Krieg sollte nicht wie ein Kinofilm konsumiert werden“

Superheld Selenskyj gegen Superschurke Putin: Soziale Medien übersetzen den Ukraine-Krieg in Memes und TikTok-Videos. Die Bilderflut ist so nützlich wie gefährlich, findet die Medienkritikerin Samira El Ouassil

fluter.de: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist gerade omnipräsent in den sozialen Medien. Wie nutzt er die für seine Sache?

Samira El Ouassil: Selenskyj hat die sozialen Medien sehr gut verstanden. Da kommt ihm seine frühere Arbeit als Schauspieler, Regisseur und Comedian zugute: Er hat ein Gefühl für Inszenierung, weiß, wie er seine Stimme einsetzen muss, er hat Timing, ein Gefühl für Authentizität. Und Selenskyj versteht, wie die Plattformen ästhetisch funktionieren. Bei seinen Handykamera-Aufnahmen ist er immer in Bewegung, nutzt die Kamera im Selfie-Modus, filmt aber auch, was um ihn herum passiert. Damit zeigt er, dass er mitten im Geschehen ist. Die wenigen Videos, in denen er saß, wirkten auf mich sogar so, als habe er nur Putins Videoästhetik ins Lächerliche ziehen wollen.

Wie würden Sie Putins Ästhetik beschreiben?

Die ist durch eine große Bewegungslosigkeit geprägt. Putin sitzt meist an einem großen Tisch, ganz starr, während der Raum mit russischen Statussymbolen und Fahnen geschmückt ist. Diese Pompösität erinnert an sowjetisches Propagandafernsehen. Fast wie eine mediale Zeitkapsel. Auf Twitter hat das neulich jemand schön zusammengefasst: Selenskyj kommuniziert wie im Jahr 2022, Putin wie 1968. Damit will Putin das Festgesetzte und Unveränderte repräsentieren. Selenskyj bedient sich einer mobilmachenden Kommunikation, um Identifikation mit der Ukraine zu schaffen. Putin hingegen will weder dem Ausland gefallen noch Empathie erwirken. Er will Stärke zeigen. Deswegen kommuniziert er auch ausschließlich mit der eigenen Bevölkerung.

„TikTok hat die Ästhetik, die es braucht, um auf die Wahrhaftigkeit des Krieges aufmerksam zu machen“

Der Kreml hat Facebook, Twitter und Instagram mit einem Mediengesetz sperren lassen. TikTok ist nur noch eingeschränkt nutzbar. Wie kommt seine Propaganda ans Volk?

Passend zu seiner historisch wirkenden Kommunikation nutzt Putin vor allem das Fernsehen. Und das sehr effizient: Die russische Bevölkerung, also vor allem diejenigen, die Putin glauben wollen, nehmen das dankend an. Und die junge russische Bevölkerung, die soziale Medien gern nutzen würde, hat anscheinend politisch so wenig Einfluss, dass es Putin verschmerzen kann, sie nicht an Bord zu haben.

Behindert es den russischen Widerstand, wenn diese Netzwerke down sind?

Selbstverständlich entfallen durch das Sperren der anderen Plattformen Mittel, um aus einzelnen Widerständigen eine gesamtgesellschaftliche Bewegung zu machen. Aber ich vertraue da auf den Erfindergeist der russischen Bevölkerung. Tatsächlich werden in Russland mehrheitlich YouTube und das russische Netzwerk VKontakte genutzt. Telegram wird immer populärer. Heißt: Es gibt durchaus noch Schlupflöcher in der Propaganda.

Für die Ukraine scheint TikTok besonders wichtig zu sein, um im Krieg Informationen auszutauschen.

Wir sehen vor allem die ukrainische Jugend, die versucht, diesen Konflikt irgendwie handhabbar zu machen. Da wird Social Media genutzt, um Schmerz und Trauer auszudrücken. Es ist in gewisser Weise auch eine Bewältigungsstrategie, den Alltag im Bunker oder auf der Flucht auf TikTok zu teilen. Viele Videos funktionieren über Ironie oder dunklen Humor, was im krassen Kontrast steht zu Tod, Vernichtung und Flucht. Aber auch das ist vielleicht ein Versuch, eine Art von Normalität aufrechtzuerhalten.

Der „New Yorker“ und „The Guardian“ schrieben sogar vom ersten „TikTok-Krieg“. Warum ist gerade dieses Netzwerk für den Krieg so relevant?

TikTok vermittelt Informationen ausschließlich über Videos. Und Videos halten wir erst mal für authentischer als bloße Worte oder Fotos, selbst wenn wir wissen, dass sie gefälscht sein könnten. TikTok hat die Ästhetik, die es braucht, um auf die Wahrhaftigkeit des Krieges aufmerksam zu machen.

Kann diese Dauerabbildung dazu führen, dass das Grauen des Krieges verzerrt wird? 

Es gibt tatsächlich eine Popkulturalisierung des Krieges, die ich problematisch finde. Zum Beispiel wenn Selenskyj als Captain Ukraina und Putin als Vladimir Thanos inszeniert werden, angelehnt an Captain America und den Superschurken Thanos aus Marvels Avengers-Reihe. Ich kann aber nachvollziehen, woher das kommt: Jüngere Menschen haben weniger historische Bezugspunkte, mit denen sie den Krieg in seiner Konsequenz und Grausamkeit vergleichen könnten. Diese Lücken werden eben mit popkulturellen Referenzen gefüllt, die helfen, den Krieg zu „übersetzen“.

Was ist dann so problematisch an dieser Übersetzung?

Wenn wir den Krieg auf Superheld gegen Superschurke verkürzen, reflektieren wir ihn nicht, sondern konsumieren ihn. Ein Krieg sollte aber nicht wie ein Meme oder ein Kinofilm konsumiert werden. Das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass wir die Schrecken nicht mehr erkennen und weniger empathisch sind.

Vor dem Posten nicht vergessen! Drei Tipps von der Medienkritikerin

Nicht sofort teilen! Manche Inhalte können sehr emotionalisieren. Wenn dich etwas besonders empört oder schockiert, lieber einmal kurz Abstand nehmen und tief Luft holen, bevor du auf den Share-Button drückst.

Check die Quelle! Und verlasse dich im Zweifel nur auf die Infos von etablierten Medien.

Sensitivity-Filter an! Auf Twitter kannst du so andere User:innen vor belastenden Bildern warnen, die du trotzdem teilen möchtest. Wenn du dich selbst schützen willst, kannst du auf Instagram einen Sensitivity-Filter einstellen.

Gerade im Hinblick auf die Schrecken des Krieges sehen wir auf Social Media ganz andere Bilder als in vielen journalistischen Medien, deren Standards es verbieten, Opfer und Tote zu zeigen oder Angaben von Kriegsparteien unhinterfragt zu übernehmen. Welche Auswirkungen können die ungefilterten Bilder der sozialen Medien haben? Wirken sie zum Beispiel auf politische Entscheidungen ein?

Die politische Wirkmacht hat sich immer wieder gezeigt. Ein bekanntes Beispiel ist das sogenannte „Napalm Girl“ von 1972. Das Foto der damals neunjährigen Phan Thị Kim Phúc hat zu einer weltweiten Mobilisierung gegen den Vietnamkrieg geführt und Einfluss auf die US-amerikanische Politik genommen. Der Unterschied zu damals ist, dass wir heute sofort ein Meer solcher Kriegsbilder haben. Alleine die Eindrücke aus der ukrainischen Stadt Butscha entrücken einen derart, dass man denkt, es müsse doch jetzt sofort eine politische Reaktion darauf erfolgen. Die Bilder haben also zweifelsohne Einfluss darauf, wie wir diesen Krieg wahrnehmen. Sie haben Menschen mobilisiert …

… bringen aber nicht zwangsläufig die politische Reaktion, die sie bewirken sollen.

Als Medienkritikerin bin ich immer versucht, an die Kraft der Medien zu glauben. Ganz pragmatisch betrachtet sehen wir aber, dass viele Politiker:innen gerade strategisch handeln, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Sie lassen sich weniger von den Bildern beeinflussen, als es sich viele vielleicht wünschen.

Früher war Samira El Ouassil Schauspielerin. Inzwischen ist sie für ihre wöchentlichen Kolumnen bei „Übermedien“ und „Spiegel Online“ bekannt. 2021 wurde die selbst ernannte „Bademeisterin der Medien“ als Kulturjournalistin des Jahres ausgezeichnet, vor kurzem veröffentlichte sie mit Friedemann Karig das Sachbuch „Erzählende Affen“.

Titelbild: Ukrainian Presidency/Handout/Anadolu Agency via Getty Images

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