Ein kalter Wind pfeift im Frühjahr über den Campus Vaihingen der Uni Stuttgart. Studierende hasten zwischen den quaderförmig-grauen Uni Gebäuden hin und her. Zwei junge Männer verteilen Flyer für die Semester-Closing-Party der Fachgruppe Informatik und werben mit Jumbo-Cocktails. Etwas abseits auf einer Bank sitzt ein junger Mann und beobachtet das Treiben. Er trägt schwarze Sneaker, schwarze Jeans, eine schwarze Puffjacke, gescheitelte schwarze Locken. Er schüttelt sich, wie um sich zu versichern, dass er wirklich da ist. „Kennst du das, wenn du so vor dich hinstarrst und denkst, alle wissen, bei dem ist gerade irgendwas los?“, fragt er dann. „So geht mir das häufig in der Vorlesung, dass ich auf die Tafel starre, abschweife und mir denke – ist das vielleicht alles nur ein Traum?“
Farhad fragt sich: Wie konnte die Welt das zulassen?
Farhad Alsilo ist 22 Jahre, studiert Maschinenbau im zweiten Semester und ist doch kein gewöhnlicher Student. Farhad ist Überlebender eines Völkermords. Er ist Êzîde. Angehöriger einer der ältesten Religionen in Kurdistan, die 2000 Jahre älter ist als das Christentum, ihre eigenen Schöpfungsmythen hat und die Sonne verehrt. Weltweit bekennen sich mindestens 800.000 Menschen zum ezîdischen Glauben. Jene Glaubensgemeinschaft, die der sogenannte Islamische Staat vor zehn Jahren, im August 2014, versucht hat auszulöschen. Damals überfiel der IS Sindschar (auf kurdisch: Shingal), das Hauptsiedlungsgebiet der Êzîd:innen im Nordirak, ermordete mehr als 5.000 Menschen und verschleppte etwa 7.000, vor allem Frauen und Kinder. Im vergangenen Jahr wurden 2.700 von ihnen noch immer vermisst. Viele wurden Opfer sexualisierter Gewalt. Hunderttausende Êzîd:innen flohen und leben jetzt in Camps im Nordirak. Bis heute fragt sich Farhad Alsilo: Wie konnte die Welt das zulassen? Und was wird getan, dass so etwas nie wieder passiert?
Farhad ist damals elf Jahre alt. „Am Abend habe ich noch mit meinen Geschwistern Karten gespielt und dann haben wir uns wie immer im Sommer aufs Dach unseres Hauses zum Schlafen gelegt.“ Um drei Uhr morgens werden sie von der Mutter geweckt, die Schüsse in der Ferne gehört hat. Die Familie flieht zu einem Onkel, der wenige Kilometer entfernt auf einem Bauernhof wohnt. „Dann kamen die IS-Leute mit ihren Pick-up-Trucks von allen Seiten“, erinnert sich Farhad.
Mädchen und junge Frauen werden in die Autos geschleppt. Die Männer müssen sich in einer Reihe aufstellen und werden gezwungen, zum Islam zu konvertieren. Wer sich weigert, wird erschossen. Farhads Mutter verbarrikadiert sich mit ihm und anderen Frauen und Kindern in der Küche. Durch das Schlüsselloch muss Farhad mitansehen, wie sein Vater erschossen wird. Vier seiner Schwestern werden vom IS entführt – und erst Monate später wieder befreit, eine sogar erst nach mehr als einem Jahr.
Die Überlebenden fliehen mit tausenden anderen ins Sindschar-Gebirge, um sich vor dem IS in Sicherheit zu bringen. Farhad hofft darauf, dass ihnen jemand zu Hilfe kommt. Dass die USA Kampfflugzeuge losschicken, um den Êzîden zu helfen. Doch es dauert zehn Tage, bis die kurdischen Milizen der YPG aus Syrien und der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans (die in Deutschland verboten und als Terrororganisation eingestuft ist) aus der Türkei mithilfe von Luftschlägen des US-Militärs einen Korridor freikämpfen. So können Farhads Familie und die anderen fliehen. 2015 werden sie für ein Sonderflüchtlingskontingent ausgewählt und kommen nach Stuttgart. Das Land Baden-Württemberg hatte sich bereit erklärt, etwa 1.000 schwer traumatisierte Êzîdinnen und deren Kinder aufzunehmen. Knapp 100 weitere Êzîd:innen kommen nach Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
Farhad setzt sich damals ein Ziel: Er will, dass das, was den Êzîd:innen zugestoßen ist, niemals wieder passiert. 2021 hat er deshalb ein Buch über seine Erfahrung geschrieben: „Der Tag an dem meine Kindheit endete“. Er dreht Videos für TikTok und Instagram und spricht mit Politiker:innen. Immer wieder erklärt er, wer die Êzîd:innen sind – und setzt sich dafür ein, dass die Massaker als Völkermord anerkannt werden.
„In ihrer Geschichte sprechen die Êzîd:innen von 74 Genoziden, die an ihnen begangen wurden – der letzte 2014“, sagt Rosa Burç. Sie ist selbst Êzîdin und forscht als Soziologin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). „Das ist mehr eine symbolische Zahl: ich würde eher von einem seit Jahrhunderten andauernden Völkermord mit kontinuierlichen Massakern sprechen.“ Immer wieder wurden sie zur Zielscheibe von Angriffen: etwa im Osmanischen Reich oder 2007 durch die Al-Qaida. „Die Êzîd:innen seien Ungläubige, Gottlose, Teufelsanbeter, das sind die gängigen Rechtfertigungen, wieso man sie vernichten und versklaven will“, sagt Burç.
Farhad und seine Mitstreiter:innen haben Erfolg. Der Deutsche Bundestag erkennt den Genozid an den Êzîd:innen im Januar 2023 offiziell an. Ebenso wie die UN, das Europäische Parlament und Parlamente in den Niederlanden, Großbritannien und Australien. Farhad sagt: „Für uns Êzîden ist das ein existenzieller Schritt. Dadurch werden wir als Religion anerkannt. Das war für uns auch eine innere Beruhigung, weil wir wussten, seit Jahrzehnten passiert immer dasselbe und niemanden hat es interessiert.“
In Deutschland beginnt auch die juristische Aufarbeitung des Genozids: Das Oberlandesgericht Frankfurt verurteilte 2021 einen irakischen IS-Anhänger, der Êzîdinnen versklavt und ein fünfjähriges Mädchen zu Tode gefoltert hatte. Es ist das erste Mal überhaupt, dass ein IS-Anhänger wegen Völkermords verurteilt und der Völkermord an den Êzîd:innen juristisch anerkannt wurde. Das deutsche Recht verfolgt das Konzept der sogenannten universellen Jurisdiktion. Demnach können mutmaßliche Täter für besonders schwere Verbrechen wie Völkermord unabhängig vom Ort der Begehung zur Verantwortung gezogen werden. Die Vereinten Nationen haben die Gräueltaten von ISIS gegen die Jesiden klar als Völkermord klassifiziert, was die rechtliche Grundlage für die Anklage in Deutschland schuf.
Rosa Burç sagt: „Wenn auf die symbolische Anerkennung des Völkermords keine Taten folgen, dann ändert die Anerkennung nur wenig im Leben der Êzîd:innen“. Noch immer leben schätzungsweise rund 150.000 Êzîd:innen in Camps in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Eigentlich wollte die irakische Regierung die Camps bis Ende Juli aufgelöst haben, und hatte Rückkehrwilligen Prämien von rund 3000 Dollar geboten. Die Schließung wurde inzwischen vertagt.
Zehn Jahre nach dem Genozid ist ein Großteil der Infrastruktur dort noch immer zerstört, Felder und Städte wurden durch den IS vermint. Das 2020 geschlossene Sindschar-Normalisierungsabkommen wird kaum umgesetzt. Stattdessen, sagt Rosa, schreite die islamistische Gefahr voran: „Wir haben in den letzten Jahren nicht nur gesehen, dass es noch immer zu Angriffen zum Beispiel durch iranische Milizen kommt, sondern dass in der Region vermehrt Menschen gegen Êzîd:innen hetzen und mit der IS-Ideologie sympathisieren.“
Zeitgleich werden die Milizen der YBŞ (Widerstandseinheiten Shingal, die sich nach 2014 zur Selbstverteidigung gegründet haben) von der Türkei angegriffen. Diese hatten sich nach der Befreiung Sindschars vom IS nach dem Vorbild und unter Mithilfe der Kampfeinheiten der YPG und PKK gegründet. Die türkische Regierung macht keinen Unterschied zwischen den Kampfverbänden, und der türkische Außenminister Hakan Fidan hat erst im Mai das Ziel ausgegeben, die Region Sindschar vollständig von der PKK zu säubern. Bei türkischen Drohnenangriffen wurden dabei laut vor Ort aktiven Menschenrechtsorganisationen wie CPT (Community Peacemaker Teams) in der Vergangenheit immer wieder auch Zivilist:innen getötet. „Viele Êzîd:innen hoffen, dass Deutschland eine aktivere Vermittlerrolle einnimmt“, sagt Burç. In keinem Land außerhalb des Irak leben so viele Êzîd:innen wie hierzulande. Nach Schätzungen des Zentralrats der Êzîden sind es mehr als 230.000.
Im Frühjahr 2023 hat die Bundesregierung Abschiebungen von Êzîd:innen in den Irak noch als „unzumutbar“ bezeichnet, Medienberichten zufolge fanden aber im vergangenen Jahr Abschiebungen von Êzîd:innenen statt, die aus dem Nordirak geflohen sind. Laut Bundesregierung seien 2023 insgesamt 135 Personen in den Irak abgeschoben worden, wie viele Êzîd:innen darunter waren, werde aber nicht erfasst. Farhad Alsilo sagt: „Sie haben ihr Versprechen gebrochen. Die Êzîden werden ins Nichts geschickt. An einen Ort, wo sie keine Häuser haben und keinen Schutz. Dorthin, wo sie ihre Liebsten verloren haben und wo ihr Trauma begonnen hat.“ Die innere Ruhe, die er nach der Anerkennung des Genozids verspürt hat, ist längst wieder verflogen.
Titelbild: Moises Saman / Magnum Photos / Agentur Focus