Julien Rothan schnappt sich ein Messer aus 32-lagigem Damaststahl. Er prüft mit einem Blick, ob es sauber ist, und teilt eine Maki-Rolle in zwei Stücke. Vor einigen Monaten hat der 26-Jährige das Sushirestaurant im elsässischen Kaltenhouse eröffnet. Es ist seine dritte Filiale.
Wahrscheinlich hätte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine Freude an Rothan. Macron schätzt Unternehmertypen und Macher, seine Regierung fördert Jungunternehmer mit Steuererleichterungen. Rothan aber sagt: „Ich werde im April auf keinen Fall wählen. Für mich ist der Präsident nur eine Marionette, die von anderen gesteuert wird.“
Die Wahlbeteiligung nimmt seit den 70ern ab, „l’abstention“ nennen die Franzosen das Problem
Rothans Begründung mag extrem klingen, seine Schlussfolgerung aber teilen viele im Land: Bei den Präsidentschaftswahlen könnte der Anteil der Nichtwähler höher sein als je zuvor. Einer Umfrage zufolge erwägt fast jeder vierte wahlberechtigte Franzose, beim ersten Wahlgang am 10. April nicht abzustimmen.
In Kaltenhouse könnte die Wahlbeteiligung noch geringer ausfallen. Die Regionalwahlen 2021 nahmen mehr als 80 Prozent der Wahlberechtigten nicht wahr. Vor allem junge Menschen unter 35 Jahren stimmten kaum ab. Zeigt sich hier, in einem 2.500-Seelen-Ort ein paar Kilometer nördlich von Straßburg, wie die Franzosen sich leise von der Politik verabschieden?
Julien Rothan nimmt ein Lachsfilet aus dem Kühlschrank. Über seinen Unterarm zieht sich das Tattoo eines Drachen, Rothans Haare sind auf einen Millimeter getrimmt, unter dem T-Shirt zeichnen sich Muskeln ab. „Ich stehe früh auf und arbeite hart“, sagt er. Von den Steuererleichterungen für Unternehmer habe er zu Beginn seiner Selbstständigkeit profitiert, mittlerweile zahle er aber eine Menge Steuern. Wenn man ihn fragt, wer genau die „Marionette Macron“ steuert, schüttelt Rothan den Kopf. Ob er einer Verschwörungserzählung aufgesessen ist oder bloß einen Spruch raushauen wollte? Wer weiß.
Das Problem mit den vielen Nichtwählern, die Franzosen nennen es „l’abstention“, treibt die Politik schon länger um. Seit den 1970er-Jahren nimmt die Wahlbeteiligung tendenziell ab. Wenn immer weniger Menschen einem Abgeordneten ihre Stimme geben, verliert die repräsentative Demokratie ihre Legitimation.
In einem Bericht suchten Abgeordnete der französischen Nationalversammlung im Dezember 2021 nach Ursachen für den Wahlunmut. Bildung und Alter spielen, so das Fazit, eine zentrale Rolle. Vereinfacht lässt sich sagen: Je höher der Bildungsabschluss, desto höher die Wahlbeteiligung. Und je älter, desto wahlbereiter. Laut dem Bericht ist die Wahlverweigerung vieler Junger nur zum Teil als Ausdruck einer Unzufriedenheit mit den Politikern und dem politischen System zu verstehen. Ein Faktor sei auch, dass sich viele Jüngere eher über Petitionen, Streiks oder Demonstrationen politisch engagieren statt über ihre Wahlstimme.
Als das Gespräch wieder auf die Politik zu sprechen kommt, relativiert Rothan plötzlich seine Entscheidung. „In der zweiten Runde werde ich Marine Le Pen wählen“, sagt er. Die Kandidatin der rechtspopulistischen (manche sagen gar rechtsextremen) Partei „Rassemblement National“ scheiterte 2017 in der Stichwahl gegen Emmanuel Macron. Die Wahlumfragen sehen sie derzeit auf Rang zwei. Mit Éric Zemmour gibt es einen weiteren Kandidaten vom äußeren rechten Rand, der noch rassistischer auftritt. Er lässt Le Pen zugleich harmloser erscheinen – was sie selbst nutzt, um bei Wählern aus der politischen Mitte zu punkten.
„Viele Leute haben die Schnauze voll von der Politik“
Rothan hält einen Flambierer über den Lachs. Er sei natürlich kein Rassist. Schließlich habe er Freunde mit arabischem und afrikanischem Hintergrund. Die Flamme zischt, das Fleisch färbt sich rosa. Dann schimpft Rothan über „Ausländer“, die nach Frankreich kämen, um von Sozialhilfe zu leben und Verbrechen zu begehen. Belegen kann er das nicht. Es ist die rechtsextreme Rhetorik von Le Pen und Zemmour, die Wut schürt und viele zum Schimpfen bringt, aber eben nicht unbedingt zum Wählen.
Aus den Gärten von Kaltenhouse grüßen Gartenzwerge zwischen sorgsam bestellten Gemüsebeeten. An einem Jägerzaun warnt ein Schild vor dem Schäferhund, auf Deutsch und auf Französisch. Die Arbeitslosigkeit liegt hier unter dem Landesdurchschnitt. Viele Kaltenhousiens pendeln zum Arbeiten nach Deutschland, wo das Lohnniveau höher ist. Vor der Pandemie haben jedes Jahr mehr als 20 Millionen Touristen das Elsass besucht, die Gegend um Straßburg und sein gotisches Münster steht in fast jedem Reiseführer. Auch in Kaltenhouse vermieten viele Einwohner Ferienwohnungen und bewirten zur Saison Touristen. Kurz: Im Dorf geht es vielen gut, eigentlich.
Isabelle Wenger geht die Treppenstufen des Rathauses hinauf, vorbei an den Porträts der Präsidenten der Fünften Republik, eine Ahnenreihe von Charles de Gaulle bis Emmanuel Macron. Wenger ist 63 Jahre alt. Als Krankenschwester hat sie ihr Leben lang Menschen versorgt. Sie könnte ihren Ruhestand genießen, aber Ruhe findet die Bürgermeisterin von Kaltenhouse gerade selten. Wenger sorgt sich wegen der niedrigen Wahlbeteiligung. „Viele Leute haben die Schnauze voll von der Politik“, sagt sie. „Das höre ich immer wieder.“
Sie als Bürgermeisterin, die sich für bessere Busverbindungen und einen Radweg am Fluss eingesetzt hat, sei damit nicht gemeint. Der Groll richte sich gegen die Politiker in Paris, die sich in gepanzerten Limousinen durchs Land fahren ließen und ihren Amtsgeschäften in Palästen nachgingen, die einst für Könige gebaut wurden.
Lenkt das Spektakel zwischen Macron und Le Pen von der schlechten Wahlbeteiligung ab?
Wenger sieht aber auch lokale Gründe für die historisch schwache Beteiligung bei der letzten Regionalwahl. Zum ersten Mal haben die Kaltenhousiens für Abgeordnete der Region Grand Est gestimmt, einen Regionalzusammenschluss aus Elsass, Lothringen und Champagne-Ardenne. Mit dieser Fusion, sagt Wenger, seien viele stolze Elsässer nicht einverstanden gewesen. Manche hätten die zu wählenden Abgeordneten nicht gekannt und die Wahl deshalb boykottiert. Die Pandemie tat ihr Übriges: „Etliche Ältere sind nicht zur Wahl gegangen, weil sie Angst hatten, sich im Wahllokal mit dem Coronavirus zu infizieren.“ Eine Briefwahl gibt es in Frankreich nicht.
Deshalb sei es umso wichtiger, die Menschen auf die Bedeutung von Wahlen einzuschwören, findet Wenger. Und zwar schon im Schulalter: „Früher hatten wir Unterricht in Gemeinschaftskunde. Da haben wir gelernt, dass es wichtig ist, wählen zu gehen.“ Heute hingegen konzentrierten sich die Lehrpläne auf abstraktere Werte wie Respekt und Freiheitsrechte, Meinungs- oder Religionsfreiheit.
Die Politikwissenschaftlerin Céline Braconnier gibt Wenger recht. Sie fordert, dass Jugendliche in der Schule direkter auf ihre ersten Wahlen vorbereitet werden sollen. Das ginge schon damit los, dass sie den Weg zum Wahllokal finden und wissen, wie man abstimmt. Braconnier weist zudem auf ein strukturelles Problem hin: 7,6 Millionen Franzosen seien auf den falschen Wählerlisten eingetragen, sagt Braconnier. Wer umzieht, muss sich an seinem neuen Wohnort in eine neue Liste eintragen lassen, um wählen zu können. Das vergessen viele, sagt Braconnier. 15 Prozent der Wähler blieben allein dadurch aus, schätzt sie. Darunter viele Junge, die für ihre Ausbildung oder eine Arbeitsstelle von zu Hause wegziehen.
Bürgermeisterin Isabelle Wenger erinnert sich noch an die Zeiten, in denen sich Neu-Kaltenhousiens im Rathaus anmelden mussten und man sie praktischerweise direkt auf der neuen Wahlliste eintragen konnte. „Das geht heute nicht mehr“, sagt Wenger.
Trotzdem schätzen Experten wie Braconnier, dass die extrem niedrigen Wahlbeteiligungen der Regionalwahlen 2021 eine Ausnahme bleiben. Präsidentschaftswahlen werden erfahrungsgemäß aufmerksamer verfolgt, auch medial. So wird die Wahlbeteiligung im April vermutlich steigen. Lokalpolitikerinnen wie Isabelle Wenger fürchten trotzdem, dass ein Spektakel wie die Präsidentschaftswahlen über die allgemeine Wahlmüdigkeit hinwegtäuschen und nötige Reformen des Wahlsystems verschleppen könnte. Die französische Demokratie ist ermüdet, da sind sich viele Beobachter einig. Auch weil von den Vorschlägen des Bürgerkonvents, den Macron nach den Gelbwesten-Protesten öffentlichkeitswirksam einberufen hatte, nur wenige umgesetzt wurden.
Vieles deutet jetzt auf einen Zweikampf: Die Entscheidung wird zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen fallen, zwischen Amtsinhaber und Herausforderin, zwischen einem Liberalen und einer Rechtsextremen. Notfalls im zweiten Wahlgang, bei dem dann auch Julien Rothan mitwählt.
Update, 25. April: Nach der Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen ist klar: Macron bleibt im Amt. Die Wahlbeteiligung ist (wie erwartet) gering ausgefallen. Laut Schätzungen lag der Anteil der wahlberechtigten Bürger, die nicht bei der Stichwahl abgestimmt haben, bei mehr als 28 Prozent – so viel wie seit 1969 nicht mehr. Auf bpb.de lest ihr mehr zu den Wahlen in Frankreich.