fluter: Umweltministerin Barbara Pompili hat gesagt, Frankreich betrete mit dem neuen Klimagesetz „die Ära der Ökologie“. Folgst du ihr, Camille?
Camille Étienne: Wir müssen tatsächlich in eine ökologische Ära eintreten. Aber die französische Klimapolitik zeigt das nicht. Das sage nicht nur ich als Aktivistin, sondern auch die Wissenschaft. Der Klimabeirat (Anm. d. Red.: ein Gremium aus Wissenschaftler/-innen) warnt, dass wir nicht genug tun. Frankreich will seine CO2-Emissionen in den kommenden Jahren halbieren, aber die angekündigten gesetzlichen Maßnahmen machen uns keine Hoffnung, dass wir das schaffen.
Auch der Bürgerkonvent, der von Präsident Macron einberufen wurde, um Vorschläge zum neuen Klimagesetz auszuarbeiten, ist unzufrieden. Er hält den Entwurf zum neuen Klimagesetz für mangelhaft.
Emmanuel Macron hatte versprochen, die Vorschläge des Konvents ungefiltert zur Abstimmung zu übernehmen. Dieses Versprechen hat er gebrochen. Wohl auch, weil die Wirtschaftslobby das neue Gesetz sabotiert, wie Investigativrecherchen zeigen. Aber nicht nur der Präsident, sondern auch die Abgeordneten im Parlament haben die Vorschläge des Konvents geschwächt.
Zum Beispiel?
Der Klimakonvent wollte Inlandsflüge abschaffen für alle Strecken, die mit dem Schnellzug in unter vier Stunden zu schaffen sind. Im Gesetzentwurf gilt das Verbot plötzlich nur noch für Zugverbindungen unter zweieinhalb Stunden. Ein anderes Beispiel ist das vorgeschlagene Werbeverbot: Der Konvent wollte, dass klimaschädliche Produkte künftig nicht mehr beworben werden dürfen. Der Gesetzentwurf enthält zwar ein Werbeverbot, allerdings gilt das nur für fossile Energien. Dieses Verbot geht völlig an der Realität vorbei: Diese Unternehmen schalten ohnehin kaum Werbung. Es gibt viele weitere solcher Schlupflöcher im Entwurf. Ich kann die Enttäuschung des Bürgerkonvents verstehen.
Was das Bürgerkonvent noch vorgeschlagen hat
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ein Verkaufsverbot der „umweltschädlichsten Fahrzeuge“ ab 2025 (laut Gesetzentwurf sollen Fahrzeuge mit „hohem CO2-Ausstoß“ ab 2030 verboten sein)
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ein Bauverbot für neue Öl- und Kohleheizungen (im Entwurf nicht vorgesehen)
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ein Verbot von Einwegplastik ab 2023 (laut Entwurf ab 2040)
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eine Prüfung der klimatischen und gesundheitlichen Folgen des neuen 5G-Netzes – bevor es weiter ausgebaut wird (im Entwurf gestrichen)
Alle Vorschläge des Klimakonvents findet ihr hier (leider nur auf Französisch)
Vielleicht waren seine Vorschläge einfach zu ambitioniert.
Auf keinen Fall. Der Bürgerkonvent hat gemacht, wozu ihn die Regierung beauftragt hat: Maßnahmen formulieren, die die Emissionen drastisch senken. So überambitioniert können sie kaum gewesen sein: Selbst mit allen vorgeschlagenen Maßnahmen des Konvents würde Frankreich das 1,5-Grad-Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen wohl verfehlen.
In Deutschland kostet eine Tonne CO2 seit diesem Jahr 25 Euro. Der Preis soll schrittweise ansteigen. In Frankreich ist er schon jetzt fast doppelt so hoch. Das Land scheint auf einem vergleichsweise guten Weg zu sein.
Das sollte man von einem wirtschaftlich so starken Land auch erwarten können. In anderen Bereichen blockiert Frankreich aber eine klimabewusste Politik. Emmanuel Macron hat sich als Klimapräsident inszeniert, den Slogan „Make the planet great again“ gewählt. Viele Französinnen und Franzosen hatten große Hoffnung. Weil wenig passiert, ist die Enttäuschung jetzt immens. Wir sehen, dass Macron vor allem den Interessen seiner alten Kumpels aus der Wirtschaft nachkommt. Die Frage nach sozialer und ökologischer Gerechtigkeit hat er in seiner Amtszeit total vernachlässigt.
Ganz zahnlos wäre das neue Klimagesetz aber auch nicht. Das erste Mal wurde beispielsweise der Begriff „Ökozid“ gesetzlich verankert. Genauso wie es gesetzlich verboten ist, jemanden zu töten, wäre es dann auch verboten, die Umwelt massiv zu beschädigen.
Das ist eine wichtige Ergänzung. Aber: Den Ökozid kann man juristisch als Vergehen oder als Straftat definieren. Das französische Parlament hat sich fürs Vergehen entschieden. Dadurch sind mögliche Strafen deutlich milder.
„Desto später wir eine echte ökologische Wende anstoßen, umso dramatischer werden die sozialen Verwerfungen“
Mitten in der dritten Corona-Welle sind über 100.000 Menschen für mehr Klimaschutz auf die Straße gegangen – kurz vor der Parlamentsdebatte zum Klimagesetz. Wie ist der Protest seitdem weitergegangen?
Wir haben ab dem ersten Tag vor dem Parlament Kundgebungen organisiert. Jeden Tag kamen mehr Menschen dazu. Auch Abgeordnete haben mit uns diskutiert. Aber wir waren zu erfolgreich. Macrons Parteifreunde im Parlament wollten uns diesen Erfolg nicht gönnen. Obwohl wir ganz in Ruhe auf dem Vorplatz des Parlaments mit Politiker*innen diskutiert haben, haben die örtlichen Behörden in Paris ein Demonstrationsverbot ausgesprochen. Jetzt dürfen wir uns nicht mehr versammeln. Das ist ganz klar eine politische Entscheidung. (Anm. d. Red.: Kurz nach dem Gespräch mit Camille Etienne hat ein Pariser Gericht das Demoverbot für rechtswidrig erklärt.)
Die Gelbwesten-Proteste haben 2018 gezeigt, dass viele Menschen zu viel Klimapolitik kritisch sehen, weil dann beispielsweise der Sprit teurer würde, den sie brauchen, um zur Arbeit zu kommen. Bei einer zu radikalen Energiewende könnten Unternehmen außerdem massiv Jobs streichen. Führt strikterer Klimaschutz nicht unmittelbar in eine soziale Krise?
Die ist doch jetzt schon da. Wir wollen sie nur nicht wahrhaben. Ein Beispiel: Amazon, das sehr von der Corona-Pandemie profitiert hat, muss in Frankreich kaum Steuern zahlen. Das neue Klimagesetz macht den großen Onlinehändlern kaum Auflagen. Gleichzeitig kämpfen lokale Betriebe ums Überleben, und wir bezahlen die Landwirte nicht vernünftig, die unsere Gesellschaft am Laufen halten. Wir sind überzeugt: Wenn der Staat seiner Verantwortung nachkommt und eine echte ökologische Wende anstößt, schafft die auch viele neue Arbeitsplätze. Desto später wir damit beginnen, umso dramatischer werden die sozialen Verwerfungen.
Titelbild: CHRISTOPHE ARCHAMBAULT/Getty images