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Krieg oder Gefängnis?

In Israel müssen fast alle jungen Menschen zum Wehrdienst. Wer ihn verweigert, dem droht eine Haftstraße. Yona ist dennoch dazu entschlossen – während ihr bester Freund gleich für neun Jahre zur Armee geht

  • 10 Min.
Yona

Auf der Straßenkreuzung in Haifa ist kein Durchkommen mehr. Zwischen Absperrgittern, Polizeiautos und einem Meer aus blau-weißen Israelfahnen haben sich Hunderte junge und alte Menschen versammelt. So wie jeden Samstagabend und wie in anderen Städten in ganz Israel protestieren sie gegen Israels Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu. Und für die Freilassung der verbliebenen Geiseln, die beim Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober in den Gazastreifen verschleppt wurden. 

Auch Yona ist an diesem Abend wieder mit dabei. Erst vor wenigen Wochen hat die 18-Jährige ihren Schulabschluss gemacht. Sie sitzt etwas abseits des Protests in einem Café und möchte lieber nicht, dass die Gäste an den umliegenden Tischen jedes ihrer Worte mithören können. Denn mit ihnen eckt Yona in diesen Tagen oft an: bei ihren Eltern, die Angst haben, dass Yona zur Außenseiterin werden könnte. Bei ihrem besten Freund David, mit dem sie viel über den Krieg in Gaza diskutiert, bei dem bislang laut jüngsten Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums, die sich nicht unabhängig überprüfen lassen, mehr als 42.000 Menschen getötet wurden. Und bei einigen der Protestierenden.

„Der 7. Oktober hat mich nur darin bestätigt, dass wir den Nahostkonflikt diplomatisch lösen müssen“, sagt Yona. Schon als kleines Kind hätten ihre Eltern sie auf Demonstrationen mitgenommen, die sich etwa gegen die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland richteten. Mit den aufkeimenden Massenprotesten, die 2020 durch Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu entfacht wurden und sich in einer zweiten Welle gegen eine geplante Justizreform richteten, sei Yona dann selbst politisch aktiv geworden und habe schließlich einen Entschluss gefasst, der in ihrem Umfeld nun für viel Unverständnis sorgt: den Wehrdienst in der israelischen Armee zu verweigern.

In Israel müssen mit wenigen Ausnahmen alle Männer und Frauen Wehrdienst leisten. Viele Refuseniks, wie die Wehrdienstverweiger:innen auch genannt werden, lassen sich psychische Probleme bescheinigen. Denn damit kann man den Dienst an der Waffe umgehen. Yona aber möchte das nicht. Ihre aktive Verweigerung sei eine Art politisches Statement, sagt sie: gegen den Gazakrieg und in Solidarität mit ihren palästinensischen Freund:innen. Selbst wenn Yona dafür in Israel Anfeindungen und sogar Haft drohen.

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Demonstration
Bei einer Demonstration gegen die israelische Regierung in Haifa steht auch Yona am Straßenrand (2. von links)

Ganz leicht ist Yona diese Entscheidung nicht gefallen, sagt sie. Noch bei der ersten Musterung, die für alle 16-jährigen Teenager in Israel – auch wenn sie gerade im Ausland leben – verpflichtend ist und aus körperlichen und psychologischen Tests besteht, sei sie unentschlossen gewesen. Denn der Armeedienst ist tief im israelischen Bewusstsein verankert. Nicht selten beginnen Gespräche unter jungen Israelis und auch im späteren Leben mit der Frage, in welcher Einheit man gedient hat.

Von jeder Generation werde immerhin erwartet, „einen Teil zur Gesellschaft beizutragen“, wie Yona es ausdrückt: „Ich habe mich schuldig gefühlt, darüber nachzudenken, meinen Teil nicht zu leisten“, sagt sie. Wenn Yona darauf angesprochen wird, antwortet sie meist, dass sie zunächst ein Jahr Freiwilligenarbeit leisten wird. Nur wenn sie spürt, dass ehrliches Interesse ihres Gegenübers besteht, erwähnt sie ihren Plan, den Militärdienst zu verweigern.

Wer keinen Dienst macht, kriegt Probleme, heißt es

Erzählungen darüber, dass ein „wertvoller Dienst“ zu einem erfolgreichen Leben beiträgt, sind in Israel ebenso verbreitet wie Gerüchte darüber, dass das Nichtdienen in der Armee das weitere Leben negativ beeinflussen könnte. Man werde Schwierigkeiten haben, einen Führerschein zu bekommen oder eine Zulassung zur Universität zu erhalten, oder Arbeitgeber:innen würden einen seltsam anschauen, wenn sie erfahren, dass man nicht gedient hat, heißt es etwa. Das israelische Gesetz verbietet es jedoch, den Militärdienst als Voraussetzung in Stellenanzeigen anzugeben, es sei denn, dieser ist für die Ausübung der Position zwingend erforderlich.

Bei der Musterung sei ihr eine mögliche Offizierslaufbahn in Aussicht gestellt worden, sagt Yona. Dass sie trans ist, sei für die Armee kein Problem gewesen. So habe man ihr die Nummer einer Gender-Beauftragten gegeben, um mit ihr über ihre Bedürfnisse zu sprechen. „Aber ich habe dort nie angerufen“, meint sie. „Wenn man ein so großes System wie die Geschlechterordnung hinterfragt, schöpft man Mut, auch andere Systeme zu hinterfragen.“

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Yona
„Keine Demokratie mit Besatzung“ steht sinngemäß auf Englisch, Hebräisch und Arabisch auf Yonas Shirt

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Haifa
Blick über Haifa. Die gelbe Schleife auf dem Hochhaus ist ein Symbol der Solidarität für die Armee

Das System Wehrdienst hatten Teenager seit den 1970er-Jahren in Israel immer wieder öffentlich infrage gestellt und ihren Unmut in offenen Briefen ausgedrückt. Im September 2023, also kurz vor Ausbruch des Gazakrieges, hatte ein solcher Brief für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Denn dieses Mal hatten ihn 230 Teenager:innen unterschrieben, deutlich mehr als in der Vergangenheit. Sogar Israels Generalstabschef bezog dazu während einer Militärzeremonie Stellung.

Einige Unterzeichnende gehörten „Mesarvot“ an, einem Netzwerk junger Refuseniks, bei dem sich auch Yona engagiert. Seit Ausbruch des Krieges wurden drei Mesarvot-Mitglieder aufgrund ihrer Verweigerung zu Gefängnisstrafen verurteilt. Denn wer öffentlich verweigert, wird nicht selten in ein Militärgefängnis gesteckt, um seine Meinung zu ändern und andere abzuschrecken. Die Zeit im Gefängnis, die unterschiedlich lang sein kann, endet meist damit, dass die Dienstuntauglichkeit aus sozialen oder psychologischen Gründen bescheinigt wird.

Die Angst vor dem Stigma

Mesarvot hat Yona die Angst vor der Haft und dem damit verbundenen Stigma genommen. Ihren Teil zur Gesellschaft will sie nun in Form eines Gemeindienstes beitragen, durch den sie auch die Einberufung zur Armee und eine potenzielle Haft bei Verweigerung ein Jahr hinauszögern kann. Sie wird in einer Kommune in Haifa leben und zusammen mit anderen Freiwilligen arbeiten, die alle später derselben Einheit beitreten sollen. Am Ende dieses Jahres wird sie ihren Dienst verweigern, während der Rest der Gruppe eingezogen wird.

Unterdessen lernt Yonas bester Freund David, der eigentlich anders heißt, bereits Flugzeugteile und Checklisten auswendig. So erzählt es der 18-Jährige zwei Tage später in einem anderen Café. Im Gegensatz zu Yona hat sich David für den Wehrdienst entschieden. Schon bald wird er ihn bei der israelischen Luftwaffe antreten. 

Yona und David kennen sich bereits seit dem Kindergarten. Sie sind im selben Dorf in der Nähe von Haifa aufgewachsen. Später in der Schule sind sie dann beste Freunde geworden. Neben ihrer gemeinsamen Leidenschaft für Videospiele gab es zwischen ihnen schon immer viele Unterschiede: Statt sich wie Yona für Politik und Philosophie zu interessieren, mag David Physik und Naturwissenschaften. Ein Problem war das bisher nicht, sie können immer über alles diskutieren, das gefällt David an Yona. Auch wenn ihre Positionen beim Thema Wehrpflicht konträr zueinander stehen.

Yona
Statt zur Armee zu gehen, macht Yona jetzt erstmal für ein Jahr Freiwilligendienst

„In der jetzigen Situation brauchen wir eine Armee“, sagt David. Was ihn wütend mache, das seien diejenigen, die sagen, dass sie mit der Armee nicht ihre Zeit verschwenden wollen, aber sonst keinen Grund haben, nicht zum Wehrdienst zu gehen. Denn der Schutz Israels sei schon immer eine gemeinsame Anstrengung gewesen. Für Menschen wie Yona, die aus politischen und moralischen Gründen verweigern, habe er ein wenig mehr Verständnis. Aber anders als seine Freundin habe er die Richtigkeit des Dienstes nie hinterfragt, daran habe auch der aktuelle Krieg in Gaza nichts geändert. „Die Ziele von Yona und mir sind eigentlich die gleichen“, sagt David: „Wir beide wollen ein Ende des Konflikts in der Region.“ Nur die Wege, dieses Ziel zu erreichen, seien unterschiedlich.

Die Luftwaffe war nicht Davids erste Wahl. Mittlerweile verspüre er jedoch so etwas wie Vorfreude – wegen der Herausforderungen und wegen der vielen jungen Menschen aus ganz Israel, die er nun bald kennenlernen wird. Aber David hat auch ein wenig Angst davor, was es heißt, in einer Kriegssituation mit all ihren Gefahren zu dienen. Nach der fast dreijährigen Grundausbildung schließen sich in der Luftwaffe etwa sechs weitere Jahre an, für die sich David verpflichtet hat. Dass so die nächsten neun Jahre seines Lebens für ihn vorgezeichnet sind, empfindet er nicht als Last, sondern eher als Stabilität und Erleichterung.

Bomben abwerfen? „Manchmal gehört das eben dazu“

Ob er in der Logistik landet oder zum Kampfpiloten ausgebildet wird, weiß David noch nicht. „Ich schließe bislang nichts für mich aus“, sagt er. Wie es ihm mit der Aussicht geht, später vielleicht einmal Bomben abzuwerfen? Das sei nicht so einfach, sagt David: „Manchmal gehört das eben dazu.“ Man müsse lernen, auf die Befehle von oben zu vertrauen. Wer dieses Vertrauen nicht habe, der müsse aufhören zu dienen, meint er. 

Seit September lebt Yona nicht mehr zu Hause, sondern in einer Freiwilligenkommune in Haifa. Zunächst arbeitete sie in einer Grundschule und in einem Jugendzentrum. Aber seit sich die Konfrontation zwischen Israel und der Hisbollah weiter verschärft hat, haben andere Aufgaben Priorität. Etwa das Aufräumen von Luftschutzbunkern und das Verpacken von Lebensmitteln. Andere Freiwillige dort wissen, dass Yona nach dem einjährigen Programm ihren Wehrdienst verweigern wird. Einige hätten damit kein Problem, andere sehen ihre Entscheidung kritisch, sagt Yona.

Kontakt zu David, der seinen Wehrdienst mittlerweile angetreten hat, hält sie weiterhin. Er ruft sie manchmal an, wenn er zwischendurch Zeit hat. Einige Male haben sie sich zudem getroffen, wenn David an seinen freien Wochenenden zu Hause war und Yona auch gerade ihre Familie besuchte. Dann würden sie über alles reden, sagt Yona. So wie früher.

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