300 Frauen in Deutschland tragen eine Burka! 18 Prozent höheres Krebsrisiko durch Wurstessen! Mit 88-prozentiger Wahrscheinlichkeit kann ein Algorithmus anhand von Facebook-Likes vorhersagen, ob ein Mann homosexuell ist!
Überall treffen wir auf Zahlen – Zahlen machen Politik
Überall treffen wir auf Zahlen – in den Nachrichten, in den Talkshows, im Netz. Zahlen machen Politik. Das Problem: Auf den ersten Blick erscheinen sie vertrauenswürdig. Doch man sieht ihnen nicht an, was hinter ihnen steckt. Und wer. Und mit welcher Absicht. Dafür muss man genauer hinschauen.
Beispiel Burka: Als im Sommer 2016 Politiker über ein Burka-Verbot diskutierten, tauchten in Zeitungen und Talkshows auch Zahlen zu Burka- Trägerinnen in Deutschland auf. Besonders häufig kam die 300 vor. Sie geht auf eine Aussage des Politologen Hamed Abdel-Samad zurück. Eine Nachfrage der Wochenzeitung „Die Zeit“ ergab aber: Der hatte schlicht geschätzt, einfach aufgrund seiner eigenen Sichtungen von „Frauen mit Vollverschleierung“, und wohlgemerkt: Nicht jede Vollverschleierung ist eine Burka. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime bot daraufhin eine Wette an: „Einen Kasten Ayran, dass niemand hier in Deutschland mehr als fünf Burka- Trägerinnen auffindet.“ Ein Fall also von Pi-mal- Daumen-Schätzung inklusive Definitionsproblem plus „stille Post“: Die Zahl wurde wieder und wieder genannt, doch wie sie zustande gekommen war, diese entscheidende Information ging dabei verloren.
Beispiel Wurst: Die 18 Prozent stammen aus einer Untersuchung der Krebsforschungsagentur IARC der Weltgesundheitsorganisation (WHO), also einer durchaus seriösen Quelle. Entscheidend ist aber nicht, wie stark das Risiko steigt – sondern wie groß es am Ende ist: Wer keine Wurst isst, hat ein Risiko von fünf Prozent, an Darmkrebs zu erkranken. Für Wurstesser liegt das Risiko laut den Ergebnissen der IARC bei 5,9 Prozent, das heißt nicht einmal einen Prozentpunkt höher. Diesem absoluten Anstieg entspricht aber ein relativer Anstieg von 18 Prozent. Das Beispiel zeigt: Eine Zahl kann stimmen und doch in die Irre führen. Besonders beliebt ist dieser Trick bei Panikmachern.
Beispiel Algorithmus: „Verblüffend zuverlässige Schlüsse“ könne ein Programm der Firma Cambridge Analytica aus dem Verhalten von Nutzern auf Facebook ziehen, hieß es Ende vergangenen Jahres in diversen Medien. Der Algorithmus habe damit sogar Donald Trump zum Wahlsieg verholfen, weil er einen besonders gezielten Wahlkampf möglich gemacht habe. Viele Medien stellten das infrage. „Doch warum wird nicht auch der Algorithmus selbst hinterfragt?“, kritisierte die Statistikerin Katharina Schüller in der „Unstatistik des Monats“. Darin zerpflücken Zahlenexperten schlecht gemachte Statistiken und falsche Interpretationen. Was ist also das Problem bei den 88 Prozent? Die Zahl beziffere – laut Schüller – gar nicht die Genauigkeit der Prognose. Sie besage lediglich Folgendes: Nimmt man je einen hetero- und einen homosexuellen Mann, dann kann der Algorithmus sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 88 Prozent der richtigen Gruppe zuordnen. „Das ist aber keine Prognose, die sexuelle Orientierung ist ja bekannt“, erklärt die Statistikerin. Kennt man die sexuelle Orientierung jedoch nicht, dann ist es mit der Treffsicherheit des Algorithmus nicht weit her.
Als kritischer Bürger sollte man ein Verständnis davon haben, wie Statistik funktioniert
Wer die Welt mit den Augen eines kritischen Bürgers sieht, der sollte also ein Verständnis davon haben, wie Statistik funktioniert. Es hilft auch schon, eine Ahnung davon zu haben, wie sie nicht funktioniert. Und sich ein paar Fragen zu stellen:
1. Hat der Produzent der Zahl ein plausibles Interesse, will er ein Phänomen groß oder klein erscheinen lassen?
2. Geht es um ein Phänomen, bei dem es schwierig ist, ehrliche Antworten zu bekommen?
3. Ist das Ergebnis politisch opportun?
4. Wer wurde befragt? Und vor allem: Wer nicht?
5. Ist das Phänomen klar definiert?
6. Sind auch absolute Häufigkeiten angegeben oder nur relative Veränderungen?
Titelbild: Jan Q. Maschinski