
Sein oder ich sein
In Deutschland hat jedes Kind das Recht, zu lernen. Philip hat Autismus – und da ganz andere Erfahrungen gemacht
Hinter ihm kippelt jemand mit dem Stuhl. Vorne kratzt die Kreide über die Tafel. Das Sonnenlicht blendet. Es riecht nach Waschmittel, Schweiß und Holz. Wenn Philip Schatz im Unterricht saß, entging ihm nichts. „Ich hatte keinen Filter, mit dem ich aussortieren konnte, was gerade wichtig ist für mich und was nicht“, erzählt er. „Meine Belastungsgrenze war schnell erreicht.“
Seine Noten sanken von einem „okayen Zweierschnitt“ in der sechsten auf einen Viererschnitt in der achten Klasse. Den Lehrkräften sei das nicht mal aufgefallen, erzählt Philip. Sie hätten ihn nicht unterstützt. Auch dann nicht, als ein Test ergab, dass er hochbegabt ist. Dass er Autist ist, ahnte damals niemand.
Viele Kinder mit Neurodivergenz, deren Gehirn also anders arbeitet, als es als typisch gilt, finden an den Schulen keine passenden Lernumgebungen vor. Internationale Studien zeigen, dass bis zu 72 Prozent der autistischen Kinder und Jugendlichen zeitweise nicht zur Schule gehen können oder dürfen. In Deutschland werden solche Zahlen nicht offiziell erhoben. Aber auch hier gibt es Schulen, die Kinder mit Autismus ausschließen. Etwa, wenn sie die Klassengemeinschaft „stören“ oder wenn es nicht genug Fachpersonal gibt. Rechtlich ist das fragwürdig: Laut der UN-Kinderrechtskonvention haben alle Kinder ein Recht auf Bildung.
Inklusion statt Förderschulen
In Deutschland sollten Förderschulen dafür sorgen, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf lernen können. Seit 2009 fordert die UN-Behindertenrechtskonvention aber einen anderen Ansatz: Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung sollen gemeinsam an Regelschulen lernen.
Davon sind die Schulen weit entfernt. 2021 stellte eine Studie fest, dass die meisten Bundesländer keine ausreichend wirksamen Maßnahmen für die schulische Inklusion getroffen haben. In sieben Bundesländern gäbe es sogar „ernstzunehmende Hinweise auf eine ‚systematische‘ Verletzung“ der UN-Behindertenrechtskonvention. Andere zeigen wiederum, dass die Konvention Impulse geben kann: Bremen, Schleswig-Holstein oder Hamburg etwa haben zuletzt viele Förderschulen ab- und Förderstrukturen an Regelschulen aufgebaut.
An der Regelschule versucht Philip derweil, sich an den Schulalltag anzupassen. Für ihn ist es unglaublich anstrengend, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Er bekommt Kopf- und Magenschmerzen, irgendwann auch Depressionen. Oft schläft er morgens erst gegen fünf Uhr ein, um dann um sieben für die Schule wieder aufzustehen. Sein Körper zieht den Stecker. Keine Seltenheit: Fachleute bezeichnen es als autistisches Burn-out, wenn Betroffene vor Dauerstress nicht mehr können. Mal meldet ihn seine Mutter in der Schule ab, mal schreibt ihn sein Psychiater krank, immer öfter schwänzt Philip. Als die Schule mit der Polizei droht, ist Philip so weit, dass er lieber von zu Hause abhauen will, als wieder zur Schule zu gehen.
Viele Schulen seien überfordert mit der Inklusion, sagt der Rechtsanwalt Pascal Striebel. Er vertritt Familien, in denen Kinder wegen einer Behinderung nicht zur Schule gehen können. Die sonderpädagogische Förderung sei in den Schulgesetzen klar geregelt, sagt Striebel. Aber oft fehle es an Personal und Infrastruktur: Viele Kinder mit Autismus brauchen Räume, in denen sie sich von grellem Licht und Lärm zurückziehen können, und feste Strukturen: eine Sitzordnung, einen Einzeltisch, wenige Raumwechsel.
Für Philip ist Online-Unterricht der Ausweg
Als Philip schon nicht mehr zur Schule geht, wird bei ihm Autismus diagnostiziert. Seine Mutter findet eine Onlineschule für Kinder mit psychischen und körperlichen Einschränkungen. Nach der zehnten Klasse wechselt Philip dorthin – und holt seinen Realschulabschluss nach. Im Einzelunterricht kippelt keiner neben ihm, es klicken keine Kulis, da ist nur Philip, im abgedunkelten Zimmer vor seinem Laptop. Weil seine Schlafstörungen anhalten, beginnt der Unterricht erst um 15 Uhr. „Meinem Lehrer dort verdanke ich viel“, sagt Philip. „Hatte ich mal keine Energie zum Lernen, war das kein Problem.“ Sein Notenschnitt steigt in zwei Jahren von 4,0 auf 1,3.
Könnte Onlinebeschulung für Kinder wie Philip eine Lösung sein? Grundsätzlich strebe die Bildungspolitik für alle Schulpräsenz an, sagt Pascal Striebel: Es gehe nicht nur um Bildung, sondern auch um soziale Kontakte. „Aber es gibt Kinder, die in unserem Schulsystem so stark durchs Raster fallen, dass es für sie sinnvoll wäre, Onlineschulen als Alternative im Schulgesetz zu verankern.“ Solange das nicht der Fall ist, müssten sich die Familien die Onlinebeschulung mühsam in Einzelfallentscheidungen erkämpfen.
Für Philip veränderte der Unterricht am Laptop alles. Heute ist der damalige „Schulverweigerer“ 25, er hat eine Ausbildung zum systemischen Berater abgeschlossen, studiert im Master Psychologie, er berät Schulen und Familien zu Autismus und gibt Seminare, in denen Lehrkräfte, Eltern und Betroffene diskutieren. Philip will Reformen anregen. Im Schulalltag seien schon kleine Veränderungen hilfreich, sagt er: ein Gehörschutz, indirektes Licht oder ein Ampelsystem. „So kann man unkompliziert deutlich machen: ‚Ich stehe auf Rot, ich muss kurz rausgehen.‘“
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