Was hatten die Ärzte nicht alles versucht. Sie hatten ihr Schlangen in die Hand gegeben, sie hatten ihr Horrorfilme gezeigt. Vergeblich: Nie zeigte die Patientin, die unter der Abkürzung S. M. bekannt ist, Furcht. Denn S. M. leidet unter einer extrem seltenen Krankheit: Sie empfindet niemals Angst.
Keine Angst zu haben: Das klingt verlockend. Nach einem wahr gewordenen Kindertraum, in dem man die höchsten Bäume erklimmen, die widrigsten Mutproben bestehen kann. Man stelle sich vor: keine Panik vor Klausuren, kein Geschrei, wenn eine Spinne über das Kopfkissen krabbelt. Und auch nicht davor, den Hausschlüssel zu verlieren.
In Wahrheit ist ein Leben ohne Angst fürchterlich. Denn Angst schützt uns davor, über eine Autobahn zu laufen, sie hält uns davon ab, mit Feuer zu spielen, ein Wildschwein zu streicheln oder unser ganzes Geld in Spielcasinos zu tragen. Das alles ist für uns so selbstverständlich, dass wir unser Verhalten kaum noch mit Furcht in Verbindung bringen. Wir nennen es Vorsicht – und meinen doch erlernte Angst.
Angstfreie Menschen sind so selten, dass sie Stars für Neurowissenschafter sind
Doch oft versteht man Mechanismen erst, wenn sie nicht mehr funktionieren. Schließlich gucken wir meist auch erst dann unter eine Motorhaube, wenn das Auto nicht mehr fährt. Gerade deshalb kann uns die Patientin S. M. so viel lehren. Und weil dieser Fall, dass ein Mensch keine Angst empfinden kann, so unglaublich selten ist, ist S. M. für die Forscher enorm viel wert. Sie gilt, wenn man so will, als ein Star unter Neurowissenschaftlern.
Als man S. M.s Gehirn zum ersten Mal scannte, war sie Anfang 20. Schon damals fiel den Ärzten auf, dass sich in einem kleinen, aber wichtigen Teil ihres Gehirns Kalk abgelagert hatte: in der Amygdala. Evolutionär gesehen gehört sie zu den ältesten Teilen des Gehirns. Die Amygdala ist ein Organ aus Nervenzellen mit zwei Hälften, aufgeteilt in kleine Stücke in der Form einer Mandel – daher auch der Name, denn Amygdala heißt auf Deutsch „Mandel“. Zieht man eine Linie zwischen Ohr und Schläfe, liegen die Amygdala-Hälften genau dazwischen.
Man kann sie sich – vereinfacht gesagt – wie eine große Karteikartensammlung vorstellen: Sobald ein Reiz von außen ankommt, wühlt die Amygdala im Archiv. Ist ein solcher Reiz schon mal vorgekommen? Und was ist danach passiert? Ein Mensch, der von einem Hund gebissen wird, verknüpft die Erinnerung „Hund gestreichelt“ mit Schmerz. Die Amygdala setzt dann ihren Stempel auf die Erinnerung. Und weil ein Lebewesen Schmerz vermeiden will, wird der gebissene Mensch vorerst nur angsterfüllt Hunde streicheln können.
Neurobiologisch ist nicht Mut, sondern Neugier das Gegenstück zur Angst
In solchen Fällen sendet die Amygdala Botenstoffe – die sogenannten Neurotransmitter – an wichtige Nerven und das Stammhirn, den ältesten Teil des Gehirns. Von dort wird vor allem über Hormone die körperliche Reaktion ausgelöst: Die Augen werden aufgerissen, um besser sehen zu können. Die Atmung wird schneller, um mehr Sauerstoff ins Blut zu bringen. Und die Verdauung wird verlangsamt, um Ressourcen zu sparen. Kurz: Der Körper richtet sich darauf ein, sich zu verteidigen oder auch zu fliehen. Aber nicht sofort – Angst lässt uns zunächst erstarren, weil Raubtiere auf Bewegung reagieren.
S. M. hat diese Schutzmechanismen nicht. Ein Besuch in der Zoohandlung, den die Forscher mit ihr unternahmen, war also nicht ganz ungefährlich. Fünfzehn Mal musste ihr der Verkäufer den Wunsch abschlagen, auch die großen, gefährlicheren Schlangen anzufassen. Die Forscher mussten sie auch davon abhalten, in das Terrarium mit der Tarantel zu greifen. Neurobiologisch gesehen ist nämlich nicht Mut das Gegenstück zur Angst, sondern Neugier. S. M. verhält sich in diesem Sinne wie ein Kleinkind. Zeigt man einem Säugling Bilder von bedrohlich wirkenden und von niedlichen Tieren, will es nach allem greifen. Angst empfindet es vor allem bei lauten Geräuschen.
Erst im Laufe der Jahre erfahren Kinder, dass etwa Kakteen zu berühren keine gute Idee ist. Dabei muss ein Kind nicht selbst Kakteen anfassen – es genügt, wenn es das schmerzverzerrte Gesicht eines anderen sieht. Das Gleiche gilt für Erwachsene: Wer im Krimi ein furchtverzerrtes Gesicht sieht, ängstigt sich mit. So kann sich die Furcht eines Einzelnen auf Millionen von Menschen übertragen, ohne dass wir selbst in Gefahr wären.
Ängste sind also erlernbar. Und so, wie man sie erlernen kann, kann man sie oft auch wieder abtrainieren. In dieser Hinsicht ist Neugier der Muskel und Angst der Muskelkater. Allerdings ist die Fähigkeit, Furcht vor Raubkatzen oder Spinnen zu entwickeln, größer, als Angst vor einem Stuhl zu haben. Zwei Millionen Jahre menschliche Evolution haben uns so beeinflusst, dass wir biologisch einfacher zwischen echten und scheinbaren Gefahren unterscheiden können.
S. M. hat keine unnützen Ängste. Sie hat aber auch keine nützlichen. Als sie 30 Jahre alt war, spazierte sie eines Abends an einem Park vorbei. Die Sonne war längst untergegangen, der Park dunkel und menschenleer. Nur ein zugedröhnter Mann lümmelte sich auf einer Bank. Der Junkie rief zu ihr rüber, und S. M. ging tatsächlich zu ihm. Als sie nahe genug war, stand der Mann auf, riss sie an ihrem T-Shirt auf die Bank, hielt ihr ein Messer an den Hals und drohte ihr, sie „aufzuschlitzen“. S. M. blieb ruhig und sagte: „Wenn du mich töten willst, musst du erst an meinen Schutzengeln vorbei.“ Der Mann, offenbar verdattert, ließ von ihr ab. S. M. rannte aber nicht nach Hause: Sie ging.
Endlich! Ein kurzer Panikanfall
Ein geistig gesunder Mensch, der so einen Überfall erlebt hat, hätte danach gewiss Angst vorm Dunkeln, zumindest für die nächsten Wochen. Wer so etwas erlebt, würde auf jeden Fall den Park meiden, vielleicht auch Drogenabhängige. Selbst der Anblick einer Bank könnte eine Panikattacke auslösen. Nicht so bei S. M. Sie ging am nächsten Tag wieder am selben Park vorbei, als wäre nichts gewesen. Sie erinnert sich zwar sehr gut an den Vorfall, aber ihr Gehirn verknüpft die Erinnerung nicht mit Angst.
Gibt es also nichts auf der Welt, vor dem sie sich fürchtet? Im Jahr 2012 begannen Forscher einen erneuten Versuch, S. M., mittlerweile Mitte 40, zu ängstigen. Ihr und einer Kontrollgruppe setzte man Atemmasken auf und ließ sie 35-prozentiges Kohlendioxid einatmen. Die Verbindung ist geruchlos – und doch reagierte S. M. Und wie. Kaum strömten die Gase, griff sie panisch nach der Maske und rief um Hilfe. 30 Sekunden lang blieb ihr Körper starr, fest hielt sie den Arm des Forschers umklammert, die Augen weit aufgerissen. Nie, sagte sie später, habe sie eine solche Panik verspürt. Von den Gesunden aber reagierte nur jeder vierte so panisch. Wie kann das sein?
Kohlendioxid ist schwerer als Luft. Ein Mensch, der in einen tiefen Brunnen fällt, verbraucht so lange Sauerstoff und gibt CO2 wieder ab, bis ihn keine Atemluft mehr umgibt und er erstickt. Jedes Lebewesen, das Sauerstoff zum Leben braucht, hat deshalb Angst vor CO2. Menschen können gefährliche Tiger zähmen, ihre Atmung aber kaum. Offenbar ist diese Furcht so grundlegend und entwicklungsgeschichtlich so alt, dass auch Menschen mit kranker Amygdala reagieren. Vermutlich ist das Organ für diese Art von Angst gar nicht zuständig. Die Amygdala scheint eher eine Art Mischpult zu sein, das Angst vor äußeren Gefahren hervorrufen und Panik bei inneren herunterregeln kann.
Aber ließ sich der Effekt tatsächlich wiederholen? Noch einmal wurde der Versuch angesetzt, noch einmal wurden die Atemmasken vorbereitet. Den gesunden Probanden klopfte schon das Herz, als sie die Ärzte sahen, Schweiß bildete sich auf ihrer Haut, drei von ihnen hatten zuvor ja eine Panikattacke bekommen. Nur S. M. saß seelenruhig da. Wovor sollte sie auch Angst haben
Jan Ludwigs Amygdala wird vor allem dann aktiv, wenn einer seiner Texte kurz vor der Veröffentlichung steht. Spinnen und Schlangen fürchtet er nicht. Angst machen ihm Faktenfehler.
Fotos: Susan Schmitz/shutterstock