Inhaltswarnung: In diesem Text werden Folterungen und sexueller Missbrauch beschrieben
Vermummt und mit Sturmgewehren bewaffnet betreten russische Soldaten den Sitz der Menschenrechtsorganisation Insha in der südukrainischen Stadt Cherson. Die Männer beginnen, die Büroräume zu durchsuchen, dann werden die Überwachungskameras abgedeckt. Aufgezeichnet wurde das Video im Mai 2022 – wenige Wochen nachdem die ersten russischen Truppen in die Ukraine einmarschiert waren.
Von der großen LGBTIQ-Gemeinschaft in Cherson, die sich früher rund um Insha sammelte, ist heute nur noch wenig spürbar. Doch aufgegeben hat die NGO nicht. Etwa eine Autostunde entfernt, in der Stadt Mykolajiw, führt Anastasiia Bila die Arbeit von Insha fort. Bei einem Tee treffen wir uns mit Bila in ihrem noch spärlich eingerichteten neuen Arbeitszimmer. Dabei sind diese Räume so viel mehr als nur Büros: „Dieser Ort soll auch als Unterkunft für queere Menschen und Frauen dienen, die fliehen müssen“, sagt Bila. Viele von ihnen wissen oft nicht, wo sie unterkommen sollen; zu groß sei die Gefahr, auf der Flucht homo- und transfeindliche Übergriffe zu erleben. „Wir denken, dass unser Büro auf ihrer Liste der Ziele stand“, sagt die Menschenrechtsaktivistin über das russische Militär (siehe Infokasten unten). Doch nicht nur der Hauptsitz der Organisation stand im Fadenkreuz, auch nach Bila selbst suchten die russischen Soldat:innen: „Als sie zu meinem Haus kamen, war ich schon nicht mehr in der Stadt.“
Während der Besatzung halfen zahlreiche Freiwillige, interne Dokumente zu vernichten, um persönliche Daten zu schützen. „So konnten wir verhindern, dass unsere Mitglieder von den russischen Truppen identifiziert werden können“, fügt Anastasiia Bila hinzu. Heute steht fest, wie wichtig diese Vorsichtsmaßnahme war.
Sexualisierte Gewalt mit homofeindlichem Hintergrund
Das Nash Svit Center für LGBT- und Menschenrechte, das seit mehr als zwei Jahrzehnten Hassverbrechen in der Ukraine dokumentiert, zeichnet in einem Bericht ein grausames Bild der Gewalt gegen LGBTIQ-Personen während der Besatzung. Um mehr über die Hintergründe zu erfahren, treffen wir uns mit Andrii Kravchuk von Nash Svit an einem überfüllten und dadurch sicheren Ort: einem Café im Zentrum von Kyjiw. Die schlimmsten Gräueltaten, die Nash Svit dokumentierte, ereigneten sich in den besetzten Gebieten – in den Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. „Wenn die Geschlechtsidentität oder die sexuelle Orientierung von LGBTIQ-Personen bekannt wird, kommt es zu Problemen“, so Kravchuk. Nicht allen Menschen gelingt es, unentdeckt zu bleiben.
Im September 2023 soll in einem Dorf in der Region Cherson ein Einwohner festgenommen worden sein. Er wurde verdächtigt, homosexuell zu sein und Verbindungen zum ukrainischen Militär zu haben. Seinen Schilderungen nach sei er brutaler Folter und sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen. So sei er gewaltsam entkleidet und mit Sturmgewehrläufen in verschiedene Körperöffnungen penetriert worden. „Sie sagten, dass ‚es viele Schwuchteln in der Ukraine gibt‘, dass ich eine von diesen sei, weil ich keine Frau habe“, gab der Betroffene bei Nash Svit zu Protokoll. Die Peiniger hätten gedroht, ihn zu vergewaltigen; danach werde er „normal“ sein.
Demütigungen und Misshandlungen an den militärischen Checkpoints seien während der Besatzung an der Tagesordnung gewesen. Russische Soldat:innen hätten Zivilist:innen gezwungen, sich zu entkleiden, und sexualisierte Gewalt als „erzieherisches“ Mittel gegen die LGBTIQ-Gemeinschaft eingesetzt. Dokumentiert ist im Bericht des Nash Svit Center zum Beispiel das Vorgehen gegen ein lesbisches Paar, das an einem Kontrollpunkt festgehalten wurde. Eine der Frauen sei fälschlicherweise für einen Mann gehalten worden, woraufhin die Soldat:innen sie verprügelt und ihr mit Gruppenvergewaltigung gedroht hätten.
Menschenrechtsorganisationen vermitteln zwischen Betroffenen und Justiz
Auch der 22-jährige Oleksii Polukhin (Titelbild links) wurde von den Besatzer:innen aufgrund seiner Sexualität angegriffen. Wir verabreden uns mit ihm in Lwiw, einer Stadt im Westen der Ukraine, wo er aktuell lebt. Alles, was er aus seiner geliebten Heimatstadt Cherson mitnehmen konnte, befindet sich in einer winzigen Einzimmerwohnung. Tagsüber verlässt Polukhin nur selten die Wohnung. Nachts plagen ihn Albträume aus der Zeit der Besatzung.
Über zwei Monate sollen die Besatzer:innen ihn in einem der Foltergefängnisse festgehalten haben, erzählt er der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Projector. Die Zustände in den Zellen beschreibt er als menschenunwürdig. „Duschen war untersagt, Anwält:innen verboten und medizinische Versorgung überhaupt nicht verfügbar“, so Polukhin. Doch das scheint beinahe nebensächlich, wenn er von der sexualisierten Gewalt durch die Wärter erzählt.
Einige der von Projector dokumentierten Fälle sind bereits lokalen nationalen Gerichten und internationalen Gerichten, wie dem Internationalen Strafgerichtshof, zugewiesen. Ein besonderes Anliegen von Oleksii Polukhin und anderen Betroffenen ist es, dass die Taten auch vor Gericht als geschlechtsspezifische Hassverbrechen gegen die LGBTIQ-Gemeinschaft anerkannt werden. Bisher hat noch kein internationales Gericht entschieden, dass die Verfolgung von LGBTIQ gegen das Völkerrecht verstößt. Eine entsprechende Verurteilung in der Ukraine wäre somit historisch. In Polukhins Fall sind sieben unbekannte russische Militärs, die mutmaßlich an Polukhins Misshandlung beteiligt waren, angeklagt. Jedoch ist es äußerst schwierig, die Identität der Soldat:innen zu ermitteln, sagt Oleksandr Kleshchenko von der Staatsanwaltschaft in Kyjiw. Doch etwas Hoffnung bleibt: „Die Taten verjähren nach ukrainischem Recht nicht, und im Notfall wird auch in Abwesenheit der Angeklagten verhandelt“, sagt Kleshchenko.
Pride in Charkiw gegen alle Widerstände
Im nordöstlichen Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine, sammelt sich trotz der allgegenwärtigen Unsicherheit vor dem Büro von Charkiw Pride eine große Traube Menschen, um für LGBTIQ-Rechte zu demonstrieren. Eine junge Frau küsst ihre Freundin auf die Stirn. Eine Szene, in der man für einen Moment beinahe vergisst, dass die Front nur 30 Kilometer entfernt liegt. Doch eben nur beinahe. Die Einschläge von Schrapnellen an Hauswänden, ständige Luftangriffe – unter anderem mit besonders zerstörerischen Lenkbomben – und Ruinen in der ganzen Stadt holen einen auf den Boden der Realität zurück.
Anastasiia Popova, Mitorganisatorin von Charkiw Pride, erzählt, dass der Protest für Gleichstellung seit 2019 in Charkiw stattfindet und auch die Pandemie und der Krieg dies nicht geändert hätten. Der drohenden Gefahr, falls Charkiw in russische Hand fällt, ist sich Anastasiia bewusst. Und sie schwebt wie ein Damoklesschwert über den Aktivist:innen: „Wenn Charkiw besetzt würde, stünden meine Freund:innen und ich wahrscheinlich ganz oben auf der Hinrichtungsliste.“ Der Kampf für die territoriale Integrität der Ukraine bleibt für sie und andere Betroffene also auch einer um den Schutz der LGBTIQ-Community.
Fotos: Sitara Ambrosio
Reise und Recherche wurden gefördert durch „The Europe-Ukraine Desk/N-Ost – Network for Border Crossing Journalism“. Diese Veröffentlichung wurde mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union erstellt.