Wenn sich bei Discountern lange Schlangen vor der Tür bilden, geht es meistens um günstige Laptops oder Telefone, die oft binnen weniger Minuten ausverkauft sind. Am 29. Mai dieses Jahres aber war ein ganz anderes Produkt schuld an wahren Massenaufläufen bei Lidl: zwei fleischlose Buletten aus Erbsenprotein, Rote-Bete-Saft und pflanzlichen Ölen für 4,99 Euro.
Die Burgerpatties stammen vom US-Unternehmen Beyond Meat, dem anscheinend etwas Besonderes gelungen ist: einen veganen Burger zu liefern, der tatsächlich wie Hackfleisch schmeckt. Seitdem Beyond Meat im Mai an die Börse gegangen ist, hat sich der Wert des Unternehmens auf über zehn Milliarden Dollar gesteigert. Solche Raketenstarts sind eigentlich IT-Firmen aus dem Silicon Valley vorbehalten, aber anscheinend sind die Anleger davon überzeugt, dass es sich bei tierlosen Fleischklopsen um ein Produkt mit Zukunft handelt.
Tatsächlich steigt in einigen westlichen Industrieländern Schätzungen zufolge die Anzahl der Vegetarier und Veganer seit Jahren. Ein Grund dafür ist der Wunsch nach einer gesünderen Ernährung, so der Meinungsforscher Jan Berlin vom Institut für Markt- und Kommunikationsforschung Skopos. Für die meisten Veganer sei der Hauptgrund für ihren Lebensstil aber eher ein moralischer. Angesichts des vielfach dokumentierten Leids in der Massentierhaltung und der damit einhergehenden Folgen für das Klima vergehe immer mehr Menschen der Appetit auf Fleisch – und auch auf Milchprodukte. Erst neulich veröffentlichten Zeitungen und das Fernsehen wieder einmal Bilder von einem bayerischen Milchviehhof, auf dem sterbende Kühe gequält wurden. Laut einer Umfrage der Verbraucherzentrale finden gut zwei Drittel den deutschen Tierschutz wichtig. Und einer Studie des Forsa-Instituts zufolge spielen Hinweise zur Tierhaltung für das Kaufverhalten bei Milch für 73 Prozent der Käufer eine große Rolle, für nur 35 Prozent der Preis.
„Alles, was der Mensch den Tieren antut, kommt auf den Menschen wieder zurück“
Darf der Mensch für sein eigenes Wohlergehen Tieren Leid zufügen? Diese Frage stellt sich nicht erst heutzutage. Wirklich große Bewegungen des Fleischverzichts entstanden bereits um 600 v. Chr. Damals bildeten sich gleich mehrere Strömungen, deren Anhänger sich aus religiösen Gründen fleischfrei ernährten, etwa viele Buddhisten in Indien ebenso wie die Anhänger des Jainismus, die jegliche Form von Gewalt gegen Tiere ablehnen. Zudem glaubten die Anhänger der Orphiker, einer religiös-spirituellen Bewegung im antiken Griechenland, an die Wanderung und Wiedergeburt der tierischen und menschlichen Seele. Deshalb aßen sie weder Fleisch noch Eier und trugen auch keine Wolle. Der Mathematiker Pythagoras war wohl ihr bekanntester Anhänger: „Alles, was der Mensch den Tieren antut, kommt auf den Menschen wieder zurück“, sagte er. Noch im 19. Jahrhundert wurden Menschen, die keine tierischen Produkte zu sich nahmen, als „Pythagoräer“ bezeichnet.
Durch die sogenannte Lebensreformbewegung, deren Anhänger gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor Industrialisierung und Materialismus in die Natur flüchteten, bekam das fleischlose Leben in Deutschland Auftrieb. Bis zur Jahrhundertwende hatten sich zahlreiche vegetarische Vereine gegründet, die auf 1.500 Mitglieder kamen. Keine besonders hohe Zahl, vor allem in der Arbeiterschaft galt das fleischlose Leben als Privileg des Bürgertums. Viele, die hart arbeiten mussten, wollten auf Fleisch als Energiespender nicht verzichten.
In Deutschland stieg der Fleischkonsum in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre stark an. Erst in den 1990er-Jahren führte der sogenannte BSE-Skandal – damals ging es um Rinder, die aufgrund falscher Fütterung unter anderem Löcher im Hirn hatten und deren Verzehr Menschen krank machen konnte – zu weniger Fleischkonsum. Bis 2011 nahm der Verzehr in Deutschland wieder zu, seitdem sank er von 62,8 Kilogramm auf 60,2 Kilogramm pro Person im Jahr 2018. Generell essen Männer rund doppelt so viel Fleisch wie Frauen. Laut dem Fleischatlas des BUND und der Heinrich-Böll-Stiftung, die den Grünen nahesteht, gibt es sogar eine Gruppe von rund fünf Prozent Vielfleischessern unter ihnen, die fast dreimal so viel Fleisch verzehren wie die Durchschnittsdeutschen.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt nicht mehr als 300 bis 600 Gramm Fleisch pro Woche
Dabei war lange umstritten, wie gesund eine Ernährung ohne tierische Produkte ist. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) rät zwar von einer veganen Ernährung bei Schwangeren und Kindern ab und weist darauf hin, dass Veganer ein Vitamin-B12-Präparat als Nahrungsergänzung einnehmen sowie auf die Zufuhr von Proteinen, weiteren Vitaminen und Mineralstoffen achten sollten, aber: „Die Versorgung mit den meisten Nährstoffen lässt sich durch eine gute Kombination und Zusammenstellung von pflanzlichen Lebensmitteln decken.“
Wie gesundheitsschädlich Fleisch wirklich ist, bleibt umstritten. Als die WHO verarbeitetes Fleisch wie Wurst oder Schinken als krebserregend einstufte, gab es viel Kritik von Ernährungswissenschaftlern. Schließlich gebe die Einstufung keine Auskunft darüber, wie groß das Krebsrisiko wirklich ist: Weltweit sterben 34.000 Menschen pro Jahr durch verarbeitetes Fleisch, das ist wenig im Vergleich zu einer Million Rauchertoten. Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte seinen Fleischkonsum beschränken. Die DGE empfiehlt, nicht mehr als 300 bis 600 Gramm pro Woche zu sich zu nehmen.
Es sind vor allem Städter und junge, gut ausgebildete Frauen, die vegan leben, sagt Marktforscher Berlin. 6,1 Millionen Deutsche bezeichnen sich als Vegetarier, 1,2 Millionen Menschen essen kein Fleisch, aber Fisch, das sind die sogenannten Pescetarier. Und dann gibt es noch die Flexitarier, Menschen, die versuchen, auf Fleisch zu verzichten.
Auch wenn der Anteil im Vergleich zum generellen Umsatz der Lebensmittelbranche noch immer gering ist, wächst die Veggie-Branche stark. In keinem Land gibt es laut einer Marktanalyse des Marktforschungsunternehmens Mintel mehr vegane Produktneuheiten als in Deutschland, der Umsatz mit diesen Produkten hat sich zwischen Mitte 2013 und Mitte 2018 verdreifacht.
Einerseits scheinen die Deutschen also das Zeug zum Vorreiter zu haben. Andererseits: Deutschland gilt mittlerweile wegen des nitratverseuchten Grundwassers als schwarzes Schaf in der EU. Schuld ist die deutsche Fleischproduktion, deren Gülle massenhaft auf den Feldern landet: Auch wenn der Konsum hierzulande zurückgeht, wird viel deutsches Fleisch in Länder exportiert, wo die Nachfrage nach wie vor da ist.
Etwa ein Siebtel der CO₂e-Emissionen entstehen durch die Nutztierhaltung
Schaut man sich die Welt an, kann man nicht wirklich von einem Trend zum fleischlosen Essen sprechen: In den reicheren Ländern werden immer mehr Menschen zu Vegetariern und Veganern, während der Fleischkonsum in aufstrebenden Schwellenländern zum neuen Wohlstand gehört. Selbst in Indien, einem Land mit vielen Vegetariern, nimmt der Fleischkonsum stetig zu. Bis zum Jahr 2050 könnte sich die Fleischproduktion weltweit sogar verdoppeln, schätzt die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO – mit katastrophalen Auswirkungen für das Klima.
Ungefähr ein Siebtel der weltweit vom Menschen produzierten Treibhausgasemissionen entstehen durch Nutztierhaltung. Die Unterschiede sind je nach Tierart aber groß: Ein Kilo Rindfleisch verursacht mehr als viermal, ein Kilo Käse dreimal so viele Emissionen wie dieselbe Menge Schweinefleisch. Und nicht nur in Südamerika wird Urwald gerodet, um billiges Soja anzubauen, das als Futter für Tiere dient.
Neu sind die wahren Kosten des Fleischverzehrs freilich nicht. „Dieselbe Strecke Landes, welche als Wiese, d. h. als Viehfutter, zehn Menschen durch das Fleisch der darauf gemästeten Tiere aus zweiter Hand ernährt, vermag, mit Hirse, Erbsen, Linsen und Gerste bebaut, hundert Menschen zu erhalten und zu ernähren.“ Das schrieb schon der 1769 geborene Naturforscher Alexander von Humboldt.