Es ist schwül und heiß an diesem Mittwochnachmittag, an dem Luis* mit seinem Motorrad vorfährt. Er will heute die Gegend von San Salvador zeigen, in der er aufgewachsen ist: Ilopango. Obwohl sich hier viel geändert haben soll, gilt sie immer noch als gefährlich. Lange haben hier die berüchtigten Mara-Banden für Schrecken gesorgt.
Auf Luis’ Motorrad geht es vorbei an Autowerkstätten, Schustern und kleinen Lebensmittelläden mit Eisenstangen vor den Türen. Schon auf dem Weg fällt auf, dass hier östlich der Hauptstadt deutlich mehr Grüppchen von Soldaten und Polizisten mit großen Maschinenpistolen unterwegs sind als in anderen Gegenden von El Salvador. Nach etwa einer Stunde Fahrt biegt Luis in eine schmale Straße ein. „Hier standen sie immer“, sagt er und zeigt auf kleine Wege zwischen den Häuschen. „Jeden Tag, wenn ich hier entlanggefahren bin, musste ich meinen Ausweis zeigen. Sie haben mich gefragt, was ich mache und wer ich bin.“
Wegen der Bandenkriminalität zählte El Salvador zu einem der gefährlichsten Länder weltweit
Bis vor etwa einem Jahr hatten hier die Mara Salvatrucha 13, oder kurz MS-13, das Sagen. Die Bandenmitglieder hatten ihre eigenen Regeln aufgestellt, Gewalt, Erpressung, Vergewaltigung und Tod in das bescheidene Arbeiterviertel gebracht. Nur wenige Kilometer weiter kontrollierte die verfeindete Bande Barrio 18 ganze Ortschaften. Entstanden sind diese Jugendbanden in den 1980er-Jahren in den USA, in den migrantisch geprägten Armen- und Arbeitervierteln von Los Angeles. Die mehrheitlich zentralamerikanischen Bandenmitglieder wurden irgendwann abgeschoben oder kehrten im Rahmen von Rückführungsprogrammen zurück. So brachten sie die MS-13 oder die Barrio 18 in ihre Herkunftsländer. El Salvador wurde zu einem der gefährlichsten Länder weltweit.
Luis fährt weiter, vorbei an einem Kreisverkehr mit Sitzbänken und einer Bushaltestelle. Menschenleer. „Früher war hier alles voll mit diesen Typen“, erzählt Luis. „Sie haben auf der Straße rumgelungert, hatten auffällige Tattoos, vor allem im Gesicht. Sie haben Gras geraucht und hatten genau im Blick, wer was macht.“
Bei einem Fußballfeld hält Luis an. Direkt daneben wurden vor kurzem Häuser abgerissen, erzählt er. Ihre Eigentümer hätten sie aus Angst vor den Bandenmitgliedern verlassen, die MS-13 feierten dann dort ihre Partys. Kinder und Jugendliche kicken einen Ball durch die Dämmerung. Haben hier auch Kinder gespielt, solange die MS-13 unterwegs war? „Klar“, sagt Luis, „man hat die Typen gegrüßt. Ich bin ihnen ansonsten aber aus dem Weg gegangen. Manchmal haben sie uns vom Fußballfeld weggeschickt, um ungestört ihre Gewalttaten durchzuführen.“ Dann zeigt er auf eine abgesperrte Fläche am anderen Ende des Platzes. „Dort hinten haben sie die Leichen hingebracht.“
Laut lokalen Medien wurden auf diesem illegalen Friedhof mehrere Leichen gefunden, darunter vier junge Soldaten, die mit einem Minibus aus Versehen in das Einflussgebiet der MS-13 gefahren waren. Nur wenige Minuten entfernt liegt das ehemalige lokale Hauptquartier der MS-13. Heute hängt Militärkleidung auf der Wäscheleine des weißen Häuschens.
Am 27. März 2022 rief El Salvadors Präsident Nayib Bukele den Ausnahmezustand aus. Zuvor hatten die Banden MS-13 und Barrio 18 an einem Wochenende 87 Menschen getötet. Bis dahin war das Verhältnis zwischen Politik und Banden, das hört und liest man in El Salvador immer wieder, vermeintlich weniger klar: Regierungen hätten mit den Banden kooperiert, so die Vorwürfe. Für eine Wahlempfehlung hätte die Politik den Banden mehr Freiheiten gegeben.
Mitunter soll eine anonyme Denunzierung übers Telefon reichen, um verhaftet zu werden
Der Ausnahmezustand wurde seitdem immer wieder verlängert und gilt bis heute – mit weitreichenden Folgen für Bevölkerung und Demokratie in El Salvador. Grundrechte wie die Versammlungs- oder die Pressefreiheit wurden eingeschränkt, Journalist*innen, die mit Berichten über kriminelle Banden „Angst“ oder „Panik“ erzeugen, drohen lange Haftstrafen. Der lokale Journalist*innenbund meldet elf Reporter*innen, die 2022 wegen Drohungen im Netz und von Regierungsmitgliedern das Land verlassen mussten. Anfang Mai dieses Jahres twitterte El Salvadors Sicherheitsministerium, dass seit März 2022 über 68.000 Personen festgenommen worden seien. Wie viele es wirklich sind, ist schwer zu sagen.
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International erheben wegen der Massenverhaftungen schwere Vorwürfe: Tausende der Inhaftierten seien unschuldig und würden trotzdem Monate ohne das Recht auf einen fairen Prozess oder Kontakt zur Außenwelt festgehalten. Es reiche mitunter schon eine anonyme Denunzierung übers Telefon, damit jemand verhaftet werde. Die Regierung hat extra eine Hotline eingerichtet, über die mögliche Bandenmitglieder gemeldet werden können.
Lucrecia Landaverde ist Anwältin und setzt sich für die ein, die ohne klare Beweislage in El Salvador im Gefängnis sitzen. „Es gibt keine Achtung der Menschenrechte, kein rechtsstaatliches Verfahren und auch keine Unschuldsvermutung mehr“, sagt sie. Die Polizei und das Militär seien angewiesen, täglich eine gewisse Anzahl von Menschen zu verhaften. Das berichten auch internationale Medien. „Einige meiner Klient*innen haben mir erzählt, dass sie im Gefängnis gefoltert werden oder gesehen haben, wie Mithäftlinge zu Tode geprügelt wurden“, sagt Landaverde. Dazu kommen die prekären Haftbedingungen. Die Gefängnisse sind maßlos überfüllt. Aktuell wirbt die Regierung unter Bukele mit dem neu gebauten „Mega-Gefängnis“. Mehr als 40.000 Bandenmitglieder sollen dort untergebracht werden. „Das Justizsystem steht auf dem Kopf: Jede Person, die gefangen genommen wird, wird eher als schuldig statt als unschuldig angesehen und durchaus auch ohne Beweise verurteilt.“
Ein Fall hat die Anwältin besonders berührt: Die Eltern von drei Kindern zwischen zwei und elf Jahren wurden nach einem anonymen Anruf bei den Behörden beschuldigt, Teil der kriminellen Banden zu sein. „Die Mutter der Kinder ist im Gefängnis gestorben, der Vater wartet seit über einem Jahr auf seinen Prozess. Es gibt keine Beweise gegen ihn“, sagt Landaverde.
In Ilopango führt Luis zu einem Kiosk mit Sitzmöglichkeit. Er hat ein Treffen mit seinem Freund Edgar* arrangiert. Edgar ist Anfang 20 und arbeitet in einer nahe gelegenen Fabrik. Er lächelt breit bei der Begrüßung, wirkt aufgeschlossen. Sein Name wurde wie der von Luis geändert, beiden erscheint es zu gefährlich, öffentlich kritisch über die Regierung und die Banden zu sprechen. Edgar setzt sich, und als er anfängt zu erzählen, wird sein Gesichtsausdruck ernst. „Bevor die Regierung hart gegen die MS-13 vorgegangen ist, haben hier die Gesetze der Banden gegolten.“ Man durfte, sagt er, nur bis zu einer bestimmten Uhrzeit aus dem Haus, musste Besuch aus anderen Vierteln anmelden, und Rennen war auch verboten: Es hätte „unnötige Panik“ ausgelöst.
Edgar erzählt von Schutzgeld, das Kleinunternehmer*innen aus dem Viertel bezahlen mussten. „Eine Frau, die hier um die Ecke ihren Laden hatte, haben sie umgebracht. Sie wollte der MS-13 kein Geld geben“, erinnert er sich. „Aber das war nicht der einzige Grund, warum sie einen umbrachten.“ Er kommt in einen Redefluss: Seine Tante, ein Schulfreund, verschiedene Bekannte … Alle wurden von den Bandenmitgliedern getötet. Er erinnere sich gut an einen Samstagnachmittag, an dem mehrere bewaffnete Typen der MS-13 seine Nachbarin aus ihrem Haus zerrten und ihr vorwarfen, „zu viel erzählt“ zu haben. „Sie hat nach Hilfe gerufen, aber ich konnte ihr nicht helfen“, sagt Edgar. „Sie haben ihr erst in Hände und Füße geschossen, dann fiel ein tödlicher Schuss.“
Luis und Edgar sind froh, dass die Regierung hart gegen die Bandenkriminalität vorgeht. Sie sind froh, dass Militär in ihrem Viertel stationiert ist, dass die gefährlichen Typen mit den volltätowierten Gesichtern weg sind. „Aber“, schränkt Edgar ein, „die Polizei hat auch meinen Cousin mitgenommen.“ Jemand habe behauptet, er sei Mitglied in einer der Banden. Daraufhin hat ihn die Polizei zu Hause verhaftet. Ein Jahr sei er ohne Prozess im Gefängnis gewesen. „Früher war er wohlgenährt, jetzt ist er mager“, erzählt Edgar. „Während er im Gefängnis war, durften wir ihn weder besuchen noch Kontakt zu ihm haben.“
Solche Geschichten von Menschen, die wahrscheinlich unschuldig im Gefängnis sitzen, hört man in El Salvador gerade überall. Einigen Mitgliedern der MS-13 und Barrio 18 dagegen sei es gelungen, vor der staatlichen Großoffensive zu fliehen, sagt die Anwältin Landaverde. „Sie könnten irgendwann organisierter zurückkehren und eine Sicherheitskrise auslösen, der wir alle ausgesetzt sind“, sagt sie. Luis und Edgar sind optimistischer. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass in unserem Viertel die MS-13 zurückkommen“, sagt Edgar – vielleicht auch, weil er sich das von ganzem Herzen wünscht.
* Name geändert