Abdul Wahil / Tafel mit Wochenplanung

Kinderzimmer statt Container

In der Schweiz können Geflüchtete in Gastfamilien unterkommen. Der Kanton unterstützt beim Vermittlungsprozess und bezahlt die Miete. Abdul und Cindy haben sich so kennengelernt – doch Platz für alle ist nicht

Text: Nora Noll und Fotos: Karla Hiraldo Voleau
Thema: Migration
24. März 2025

Das Bett zusammengeklappt, das Regal leer, der Boden gewischt. Ein paar Zettel liegen noch auf dem Schreibtisch, vollgeschrieben mit Zahlen und technischen Fachbegriffen. Der Rest von Abduls Schweizer Leben steht in Kisten verpackt in der Garage.

Morgen zieht Abdul Wahil um, in eine eigene Wohnung nach Epalinges bei Lausanne. Er verlässt das Kinderzimmer mit der blau gestrichenen Wand, er verlässt seine Gastfamilie, also Cindy. „Wenn ich hierbleiben könnte, wäre das besser“, sagt er auf Französisch. Weil er von seinem bisherigen Zuhause eine Stunde und 45 Minuten zu seinem Ausbildungsbetrieb braucht, hat er sich trotzdem für den Umzug entschieden.

Abdul ist 29 Jahre alt. Er stammt aus Afghanistan, arbeitete in einer Regierungsbehörde und floh, als die Taliban 2021 die Kontrolle übernahmen. 2022 kam er in die Schweiz, landete in unterschiedlichen Flüchtlingsunterkünften und schließlich bei Cindy Conod.

Cindy wohnt, seit sie denken kann, in La Sarraz, einem Dorf in dem Schweizer Kanton Waadt mit 2.598 Einwohner*innen, einem Schloss, einer direkten Bahnverbindung nach Lausanne und einem 180-Grad-Bergblick. Sie ist 47 Jahre alt, hat ein Haus, ein großes sogar, zwei erwachsene Kinder, die nicht mehr in diesem Haus leben, und deshalb viel Platz. „Zu viel Platz für eine Person“, sagt Cindy.

Cindy und Abdul stehen im Garten

Cindy lernt von Abdul viel über Afghanistan, aber auch einen ungewohnten Blick auf die Schweiz

Was das Zusammenleben von Abdul und Cindy besonders macht: Beide nehmen an einem kantonalen Programm teil, das Geflüchtete und Gastgebende zusammenbringt, die Miete übernimmt und bei Fragen und Problemen zur Seite steht. Anstatt auf Massenunterbringung zu setzen, unterstützt das „Établissement vaudois d’accueil des migrants“ (EVAM), also die Institution zur Unterbringung von Migrant*innen im Kanton Waadt, seit bald zehn Jahren Geflüchtete beim Ankommen in Gastfamilien.

Simon Aladjem arbeitet im Gastfamilienprogramm des EVAM und erzählt von den Anfängen. 2015 kommen Tausende Geflüchtete aus Eritrea, Afghanistan, Syrien und Irak in die Schweiz, knapp 40.000 Asylgesuche werden in dem Jahr gestellt, fast zwei Drittel mehr im Vergleich zum Vorjahr. Die Kantone sind überfordert. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe, eine national agierende NGO, denkt sich eine Lösung aus: Private Unterbringungen sollen die überfüllten Unterkünfte entlasten.

Meinen die Gastgebenden es wirklich ernst?

An dem Vermittlungsprozess hat sich seitdem kaum etwas verändert. Die Verantwortlichen prüfen zuerst die Angebote: Gibt es ein eigenes Zimmer für die geflüchtete Person, Zugang zu Küche und Bad, Anschluss an öffentliche Verkehrsmittel? Und sie reden mit den Menschen hinter den Angeboten. „Wir wollen herausfinden, ob wirklich alle am Start sind und es zum Beispiel nicht nur die Idee von der Frau war, und der Mann ist eigentlich dagegen. Und wir besprechen praktische Fragen: Seid ihr dazu bereit, den Kühlschrank zu teilen?“, sagt Aladjem.

Die potenziellen Gastgebenden müssten verstehen, dass es nicht um eine symbolische Geste, sondern um gleichberechtigtes Zusammenwohnen geht. „Gerade in den Zeiten des Krieges, wenn sie die Bilder im Fernsehen sehen, machen Leute emotionale, aber nicht wirklich durchdachte Angebote.“

Wenn das Angebot steht, wird gematcht. Auch dabei stellt das EVAM bestimmte Bedingungen auf: Beide Seiten müssten sich zumindest rudimentär verständigen können, die Geflüchteten sollten ernst gemeintes Interesse an einer Wohngemeinschaft haben und einigermaßen selbstständig ihr Leben organisieren.

Cindy und Abdul sitzen lachend am Küchentisch

Gespräche auf Augenhöhe: Beim Gastfamilienprogramm des EVAM geht es um gleichberechtigtes Zusammenwohnen

Abdul und Cindy matchen im Oktober 2023. Zu dem Zeitpunkt wohnt Abdul noch in einer Gemeinschaftsunterkunft in Villars-sur-Ollon, einem Kurort in den Bergen. Wer den Ort googelt, bekommt Bilder von schneebedeckten Gipfeln, grünen Hügeln und Holzhütten angezeigt. „Es war sehr isoliert“, sagt Abdul. „Eigentlich war es im Wald.“

Rein rechtlich muss Abdul nicht in der Unterkunft leben, doch er findet keine Wohnung. „Es ist sehr schwierig, schon für jemanden mit richtigem Aufenthaltstitel, aber mit meinem Status ist es noch schwieriger.“ Über ein Patenschaftsprogramm, das ältere Schweizer*innen mit Geflüchteten zusammenbringt, lernt er Cindys Mutter kennen. Und Cindys Mutter weiß, dass ihre Tochter ein Zimmer frei hat.

Cindy hat vor Abduls Einzug vor allem praktische Bedenken. „Ich habe mich gefragt, wie machen wir das mit dem Einkaufen, mit dem Essen, wie sieht der Alltag aus? Ich habe davor noch nie mit jemandem zusammengewohnt, den ich nicht kannte.“ Dass eine Ansprechperson des EVAM im Zweifelsfall vermitteln kann, gibt ihr ausreichend Sicherheit. Und dass finanziell alles geklärt ist: Abdul bekommt vom EVAM Geld für Miete und Nebenkosten – 620 Franken im Monat –, das er an Cindy zahlt. Sie setzen einen Vertrag auf für die ersten sechs Monate.

Abdul Wahil sitzt auf dem Bett

Abdul wäre am liebsten in diesem Zimmer geblieben, doch sein Ausbildungsbetrieb ist einfach zu weit entfernt

14 Monate später hängt in der Küche eine Tafel mit den Wochentagen, dahinter steht mal Cindys, mal Abduls Name. Sie wechseln sich mit den Abendessen ab. „Ich mag die afghanische Art, Reis zu kochen“, sagt Cindy. „Cindy kocht jedes Mal etwas anderes“, sagt Abdul. Seine neuen Lieblingsgerichte? „Lasagne und Fondue.“

Bei den gemeinsamen Abendessen unterhalten sie sich, Cindy lernt Afghanistan aus Abduls Erzählungen kennen, und sie lernt die Schweiz kennen, wie sie sich Migrant*innen zeigt: bürokratisch, kompliziert. Seit bald drei Jahren wartet Abdul auf seinen Asylbescheid. In dieser Zeit verbessert Abdul sein Französisch, spielt Volleyball im Dorfteam, beginnt eine Ausbildung zum Elektroniker.

Gastfamilien als Integrationsbooster und Antirassismus-Prophylaxe? So sinnvoll es klingt, der Haken steckt vor allem in den Zahlen. Wenn nicht gerade akute Krisen für mehr Hilfsbereitschaft sorgen, mangelt es an Angeboten. Während das EVAM zu Beginn des Ukrainekrieges bis zu 950 Geflüchtete bei 470 Gastfamilien unterbringen konnte, ist die Zahl laut Aladjem in der Zwischenzeit auf 170 Gastfamilien mit 300 Gästen gesunken – bei über 12.000 Geflüchteten im Kanton. Laut der Schweizer Flüchtlingshilfe hat auch in anderen Kantonen mit Gastfamilienprogrammen die Unterbringungsbereitschaft seit 2023 abgenommen.

Ukrainische Geflüchtete bevorzugt

Dazu kommt: Wer am Ende einen Platz in einer Gastfamilie bekommt, hängt von den Anbietenden ab. Und die haben eine starke Präferenz für weiße, „europäische“ Geflüchtete. Davon berichtet das EVAM, davon berichten auch Organisationen aus anderen Kantonen. Die GGG Benevol (Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel) betreut Gastfamilien in Basel. „Es ist leider so, dass wir aus den anderen Fluchtregionen, also in erster Linie Afghanistan und Syrien, deutlich mehr Anmeldungen haben als Gastfamilien. Bei den ukrainischen Menschen ist es umgekehrt“, sagt Ursula Baum von der GGG Benevol.

Das EVAM bevorzugt im Vermittlungsprozess außerdem Geflüchtete ohne chronische Krankheiten oder Behinderungen, um die Gastgeber*innen nicht zu überfordern. Und auch Migrant*innen, die sich noch im Asylverfahren befinden und mit einem negativen Bescheid rechnen müssen, haben beim EVAM kaum, bei der GGG Benevol überhaupt keine Chance auf Vermittlung. „Wenn so eine Situation eintritt, also Ablehnung oder drohende Abschiebung, kann das für die Gastgebenden, welche eine Beziehung aufgebaut haben, ebenfalls eine schwere Belastung sein“, sagt Baum.

Abdul hatte in diesem Sinne Glück. Weil er laut Simon Aladjem mit einem positiven Bescheid rechnen kann, nahm das EVAM ihn trotzdem in das Programm auf. Am Tag nach seinem Umzug hat er die wenigen Kisten bereits ausgepackt, das Ein-Zimmer-Apartment wirkt trotzdem leer. Ob er mit Cindy in Kontakt bleiben wird? „Natürlich, wir sind Familie.“ 

Drei Teppiche liegen auf dem Boden seiner neuen Wohnung: ein Perserteppich, ein grauer Ikea-Teppich und ein Spielteppich mit Straßennetz. Den hat er aus Cindys Kinderzimmer mitgebracht.

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