Thema – Ukraine

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„Maaaaaaaann, Deutsch …“

Über eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer sind nach Deutschland geflohen, um dem Krieg zu entkommen. Manche wollen hierbleiben, andere nicht. Wir haben zwei von ihnen getroffen

Dmytro und Alina

Das Leben von Dmytro Chernyavskyi hätte so anders verlaufen können, er will es sich lieber nicht ausmalen.

Noch vergangenen Februar stand er vor der Vollendung seines Traums: Profifußballer in seiner Heimatstadt Krywyj Rih im Süden der Ukraine: knapp 625.000 Einwohner, Geburtsstadt von Präsident Selenskyj. Hier hatte Dmytro zum ersten Mal einen Fußball in der Hand. Seit seinem sechsten Lebensjahr spielt er bei seinem Heimatverein, erst in der Verteidigung, dann im Tor. Mit 17 holten ihn die Trainer zu den Profis. Im Februar 2022 saß er in einem Flugzeug, auf dem Weg in ein Trainingslager in der Türkei. Dmytro war noch nie allein außerhalb der Ukraine gewesen. Und jetzt standen er und sein Team kurz vor dem Aufstieg in die erste ukrainische Liga. Er war so nah dran.

Ein Jahr später treiben die Wolken unentschieden über das Stadion des 1. FC Schweinfurt. An Spieltagen kostet ein Stehplatz hier zwölf Euro, die Rindswurst kriegt man für stabile drei. Heute spielt Schweinfurt (4. Liga) gegen den Würzburger FV (5. Liga). 200 Zuschauer. Keine nennenswerten Torchancen. Kurz vor der Halbzeit steht es noch 0:0.

In der Ukraine könnte Dmytro eingezogen werden

Dmytro beobachtet das Spiel von der Auswechselbank aus, die Hände tief in seiner Jacke. „Schnüdel“, steht auf seinem Rücken, der Spitzname der Schweinfurter. Seit einem Jahr lebt Dmytro nun hier im Norden Bayerns.

Er ist froh, dass er in der Türkei war, als russisches Militär in sein Heimatland einfiel. Seine Mutter schrieb ihm eine Nachricht: „Flieg bitte nicht nach Hause. Flieg nach Deutschland.“ Er solle sich bei einem Bekannten in der Nähe von Schweinfurt melden, sie komme mit seinem kleinen Bruder nach. Inzwischen ist Dmytro 18 Jahre alt, im wehrfähigen Alter also. Wäre er zurückgekehrt, hätten sie ihn vielleicht eingezogen.

Der Krieg in der Ukraine hat zu einer der größten Fluchtbewegungen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs geführt. Mehr als fünf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer flohen innerhalb ihres Landes, etwa acht Millionen gingen in andere Länder Europas – die meisten nach Polen (ca. 1,5 Millionen) und Deutschland. Ende 2022 lebten über eine Million Geflüchtete hier. Weil Männer über 18 nicht aus der Ukraine ausreisen dürfen, sind die meisten Frauen.

In der Ukraine war Dmytro (oben Mitte) kurz davor, Fußballprofi zu werden
In der Ukraine war Dmytro (im gelben Trikot) kurz davor, Fußballprofi zu werden

Eine davon ist Alina Vivcharuk, 25 Jahre alt. Es ist inzwischen das zweite Mal, dass Alina vor russischen Soldaten fliehen musste. Sie wurde im Osten der Ukraine geboren, in Luhansk, wo der russisch-ukrainische Krieg schon seit 2014 tobt. Ihre Mutter setzte sie ins Auto, Alina war da 16 Jahre alt. In Krywyj Rih fingen beide noch einmal neu an: Alina machte Abitur, studierte Englisch und Russisch. Einmal, als sie durch die Fußgängerzone bummelte, hörte sie eine Straßenmusikerin. Sascha. Sie ging zu ihr, fragte nach ihrem Insta-Account. In der Ukraine wusste sie, wie man flirtet. Ein halbes Jahr später zogen die beiden zusammen. Als die russischen Panzer über die Grenze fuhren, entschlossen sie sich zu fliehen.

Nun sitzt Alina in einer Pizzeria in Reutlingen. Ihre Augen hat sie grün geschminkt, dieselbe Farbe wie ihr Oberteil. Gerade kommt sie vom Deutschkurs, fünf Stunden, mehrmals die Woche. Anfangs konnte sie kein Wort Deutsch, wie die meisten der ukrainischen Geflüchteten. Etwas stolz ist sie schon, wie gut sie inzwischen ist.

Dmytro und Alina haben sich noch nie getroffen. Beide sind aus derselben Stadt geflohen, beide sind in Süddeutschland gelandet. Aber ihr Leben hier könnte nicht verschiedener sein. Für Dmytro ist Deutschland ein Abstieg, für Alina das Gegenteil. Dmytro würde überall hingehen, wo er im Tor stehen kann, auch wieder zurück in die Ukraine. Alina gehört zu dem Drittel der Geflüchteten, die auch nach dem Krieg in Deutschland bleiben wollen.

„Das Rathaus war sehr, sehr kompliziert. Wir haben nichts verstanden“

Vor dem Krieg arbeitete Alina als Barkeeperin, zeitweise 14 Stunden pro Tag, manchmal ohne Wochenende. „Deutsche Menschen sind da immer überrascht. Aber als Barkeeperin konnte ich mehr Geld verdienen als mit Sprachen“, sagt sie und lacht. „Nicht so viel, aber mehr.“ Wie Alina haben 72 Prozent aller ukrainischen Geflüchteten in Deutschland einen Hochschulabschluss.

Drei Viertel aller Geflüchteten aus der Ukraine sagen, sie fühlten sich bei ihrer Ankunft willkommen. Auch Alina und ihre Freundin Sascha. „Alle waren so nett“, sagt sie. Die Helfenden hatten den beiden eine Gastfamilie organisiert. Dort zogen die beiden in ein gemeinsames Zimmer, so lange, bis sie auf eigenen Beinen stehen würden. In den ersten Tagen erkundeten sie die Stadt. Die kleine Stadt, wie Alina Reutlingen mit seinen 116.000 Einwohnerinnen und Einwohnern nennt. Das Erkunden dauerte also nicht lang. Alina mag das. Das eine halbe Stunde entfernte Stuttgart ist ihr zu laut.

Die deutschen Behörden schufen schnell ein System, das Geflüchteten aus der Ukraine die Einreise erleichtern sollte. Ukrainische Geflüchtete müssen kein normales Asylverfahren durchlaufen, sondern können zunächst 90 Tage ohne Aufenthaltstitel hierbleiben. Sie dürfen arbeiten, haben Anspruch auf Unterstützung, können ihre Kinder zur Schule schicken. Dazu kommt: Die wenigsten Geflüchteten aus der Ukraine leben in Sammelunterkünften, die meisten kamen bei Verwandten und bei Gastfamilien unter – wie Dmytro und Alina.

Und dennoch warten auch auf die Geflüchteten aus der Ukraine bürokratische Hürden: Registrierung, Aufenthaltstitel, Anträge auf Sozialleistungen. Alina sagt: „Das Rathaus war sehr, sehr kompliziert. Wir haben nichts verstanden.“ Ohne Ilona und Thomas, ihre deutsche Gastfamilie, hätten sie es nicht so leicht geschafft. Aber Stress gab es natürlich dennoch: Ihre ukrainische Wohnung hatte mehrere Zimmer, in Deutschland mussten sie sich plötzlich eines teilen. Sie hatten keinen Rückzugsort mehr und überlegten, ob sie sich trennen sollten. Aber dann? Sie kannten ja kaum jemanden.

Drei Viertel aller aus der Ukraine Geflüchteten sagen, sie fühlten sich bei ihrer Ankunft willkommen

Dmytro wollte die ersten Monate nichts mit Fußball zu tun haben, eigentlich mit gar nichts. Er wohnte zunächst mit seiner Familie bei einem Bekannten in einer Kleinstadt, 30 Minuten von Schweinfurt entfernt. Dort lag er auf dem Bett – und wenn er nicht Filme guckte, schrieb er sich mit Freunden und ehemaligen Teamkollegen. Sein Leben war ja immer nur auf ein Ziel ausgerichtet: Fußballprofi. Er ging nicht feiern, er trank keinen Alkohol. Eine Freundin hatte er nicht. Und plötzlich war er auch noch fremd. Dmytro zog sich zurück.

Es brauchte erst einen Arschtritt seiner Mutter und ihre Initiative. Ein Bekannter von ihr rief in der Geschäftsstelle des 1. FC Schweinfurt an und verabredete ein Probetraining für Dmytro. Wenig später unterschrieb er schon einen Vertrag. Seit Juni fährt er nun täglich nach Schweinfurt. Fünf Tage die Woche hat er Training. Am Wochenende Spiele. Ein Vollzeitjob.

Nach der Halbzeit nimmt Dmytro wieder auf der Ersatzbank Platz. Nach und nach werden Mitspieler eingewechselt. Den erschöpften Ausgewechselten reicht Dmytro entweder Wasser oder eine Jacke. Und dann, wie aus dem Nichts, geht Schweinfurt in Führung. Die Bank springt auf. Dmytro reckt die Fäuste in die Luft.

„Dmytro ist wahnsinnig professionell“, sagt Robert Hettich, der Sportliche Leiter von Schweinfurt. Gerade noch sei Dmytro dritter Torhüter, die beiden anderen seien eben mehrere Jahre älter als er. Es habe Phasen gegeben, da dachten sie im Verein, jetzt geht Dmytro richtig ab. Dann wieder sei es nicht so gut gelaufen. Das sei normal, sagt Hettich. „Er muss jetzt Deutsch lernen, dann ist er wirklich da. Dann kann er mit den Jungs auch mal feiern gehen.“

Die Sprache ist wichtig, um sich zu integrieren. Dmytro weiß das.

„My English is okay. It’s no problem talking to the guys on the team. We share our stories. They ask me a lot about my culture and I ask a lot too, but ...“

Dmytro bläst die Backen auf.

„Maaaaaaaann, Deutsch ...“

„Wie die meisten Menschen bin ich froh, in Sicherheit zu sein und keine Explosionsgeräusche zu hören, nicht zu sehen, wie Zivilisten sterben“

Seit ein paar Wochen ist er jetzt in einem Deutschkurs. Er lernt zwischen dem Training und dem Abend. Er hat für nichts anderes mehr Zeit: Fußball und Vokabeln. Was ist mit Freunden? Dmytro schüttelt den Kopf und lässt ganz lange die Luft raus.

„I mean, I can speak a couple of words. Hallo. Danke. Wie geht’s dir? But, oh my god, the language is so hard.“

Beim Training verständigt er sich auch mit Händen und Füßen. Und wenn er mal kompliziertere Dinge ausdrücken will, holt er sein Smartphone heraus. Google Translate regelt den Rest.

Ich tippe in mein Smartphone und reiche es ihm: Bist du glücklich in Deutschland?

„Wie die meisten Menschen bin ich froh, in Sicherheit zu sein und keine Explosionsgeräusche zu hören, nicht zu sehen, wie Raketen fliegen, wie Zivilisten sterben. Ich verstehe, dass ich im Moment in Deutschland bin und meinen Job machen muss – Fußball spielen.“

Ich tippe: Was war dein schönster Moment bisher bei Schweinfurt?

„Als mir klar wurde, was Fußball in Deutschland ist: Hier gehen die Leute zu den Spielen und unterstützen ihre Mannschaft immer, bei jedem Wetter und mit jedem Gegner. Als ich zum ersten Mal in die Mannschaft kam, stand ich auf dem Podium und spürte die ganze Ladung des Stadions, die Ladung der Fans, die die Mannschaft anfeuerten und unterstützten. Wir haben gewonnen.“

Alina  (links mit einer Freundin) hat Englisch und Russisch studiert
Alina (links, mit einer Freundin) hat Englisch und Russisch studiert

Alina sagt, es sei ein sehr schnelles Jahr gewesen. Sie lacht. Sie habe viel gelernt, über sich, über Deutschland. „Es hat mich selbstbewusster gemacht.“ Und: „Deutsche haben sehr wenig Zeit auch.“ Wieder lacht sie.

Die meiste Zeit verbringt Alina mit Spazierengehen und im Fitnessstudio. Im Deutschkurs hat sie jetzt Freundschaften gefunden. Aber sonst ist es „immer noch sehr schwierig“.

Sascha und sie haben sich im Sommer getrennt. Es war zu viel, zu nah. Als Sascha eine Wohnung in Reutlingen fand, ging Alina trotzdem mit zur Besichtigung. Der Vermieter sprach auf Deutsch. „Als ich ihn verstanden habe, da habe ich zum ersten Mal gedacht: Ich bin jetzt da.“ Es gab noch ein zusätzliches Zimmer. Alina zog ein. „Unsere Freunde finden das komisch“, sagt sie und lacht. Aber: „Jeder hat sein eigenes Zimmer. Das ist sehr gut.“

Bald haben die beiden die nächste Deutschprüfung. B1. Danach: B2, wofür sie fließend Deutsch sprechen muss. Und dann? „Feuerwehrfrau. Das würde mich sehr interessieren. Aber dafür brauche ich einen deutschen Pass“, sagt Alina. Sie hat sich schon informiert.

„Als ich den Vermieter verstanden habe, habe ich zum ersten Mal gedacht:
Ich bin jetzt da“

Wenn das nicht klappt, macht sie vielleicht eine Ausbildung oder lässt sich ihr Diplom anerkennen. Der Krieg wird noch lange gehen, glaubt sie. „Wir siegen. Es gibt keine andere Option für mich“, sagt Alina. Und wenn es so weit ist, will sie jeden Urlaub zurück in die Ukraine.

Wir wollen schon aufstehen, da lehnt sich Alina noch einmal über den Tisch. Sie habe da letztens einen so hübschen Mann in der Fußgängerzone gesehen: „Wie lernen sich die Deutschen denn kennen?“

In Schweinfurt pfeift der Schiedsrichter ab. Schweinfurt hat tatsächlich gewonnen. 2:1. Dmytro ist der Einzige, der nicht eingewechselt wurde. Allgemeines Shakehands mit dem Gegner, dann kommen alle Spieler auf dem Platz zusammen, formen einen Kreis. Und so steht Dmytro auf dem Fußballfeld, mit seinen Mitspielern Arm in Arm. Der Trainer redet auf Deutsch auf sie ein. Das alles mag Dmytro noch nicht verstehen. Dmytro mag auch noch kein Fußballprofi sein. Aber jetzt ist er schon mal ein Schnüdel. Ein Anfang. Der Rest kann ja noch werden.

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