Ich bin eine passive Social-Media-Nutzerin. Einen Like vergeben: Das bringe ich noch übers Herz. Aber kommentieren oder mit Trollen diskutieren? Das überlasse ich lieber den anderen. Mit diesem Verhalten bin ich nicht allein: Laut dem „Digital 2020 Reports“ liked ein*e Facebook-Nutzer*in durchschnittlich nur acht Posts im Monat. Noch weniger aktiv sind Deutsche, wenn es ums Kommentieren und Teilen geht: Nur drei Mal kommentieren sie innerhalb eines Monats, geteilt wird in dieser Zeit gerade mal ein Post.
„Hatespeech fühlt sich an, als würde jemand vor mir auf der Straße verprügelt werden und ich laufe wortlos vorbei“
Dabei überfluten Tausende menschenverachtende Statements die Kommentarspalten und warten auf Widerworte. Manchmal fühlt sich meine Timeline an, als würde jemand vor mir auf der Straße verprügelt werden und ich laufe wortlos vorbei. Im Netz ist das einfach: Ich schließe die App. Aus den Augen, aus dem Sinn. Auch wenn die Passivität meiner Psyche sicher gut bekommt – die, die verbal angegriffen werden, können sich dem nicht so einfach entziehen. Doch viele werden mit den Online-Anfeindungen alleingelassen. Das liegt auch daran, dass die meisten – so wie ich – negative Kommentare lieber ignorieren, als aktiv mit Gegenrede einzusteigen.
„Die meisten Menschen fühlen sich zu sicher oder zu unsicher, um bei Hatespeech einzugreifen“, erklärt mir Björn Kunter dieses Verhalten. Er ist der Gründer von Love-Storm. Hier kann man mithilfe eines E-Learning-Tools und Online-Trainings lernen, gegen Hass im Netz aktiv zu werden. Und da ich offensichtlich Nachhilfe nötig habe, schaue ich mir das mal an. Obwohl sich 16 Menschen angemeldet haben, tauchen nur sieben an diesem Freitagabend zum Onlinekurs auf. Das sei öfter so, erklärt der Trainer. Klar, denke ich mir, an einem Freitagabend würde ich auch lieber entspannt ins Wochenende starten, als mich mit Trollen und Rassisten verbal zu prügeln.
Doch um Wortgefechte geht es nicht. Das lerne ich schnell. Ein Love-Storm, wie wir ihn hier lernen sollen, hat drei Ziele: Angegriffene schützen und stärken, Zuschauende mobilisieren und den Angreifenden gewaltfrei, also ohne zurückzupöbeln, Grenzen setzen. Dass das einfach klingt, aber nicht ist, merke ich schon im ersten Rollenspiel. Wir teilen uns in vier Gruppen: Angegriffene, Zuschauer*in, Hasskommentator*in und Eingreifende. Ich bin diejenige, die angegriffen wird.
Trügerische Überzahl der Hater
Das Szenario: In einer Stadt wird eine Unterkunft für Geflüchtete eingerichtet, es soll ein Willkommensfest geben. Unter einem Posting von mir, in dem ich zum Fest einlade, sammeln sich rasch Trolle, die die klassischen Stammtischparolen gegen Geflüchtete raushauen. Es wird schnell konkreter: „Wir kommen auch vorbei und zeigen euch, wie willkommen ihr seid!“ Die Trolle werden von zwei anderen Teilnehmenden gemimt, während eine Person versucht, mir zur Seite zu springen – allerdings wenig erfolgreich. Bei den Anschuldigungen werde ich schnell wütend, fühle mich persönlich angegriffen und ungerecht behandelt. Vor allem aber fühle ich mich alleingelassen, weil die Hassfraktion in der klaren Mehrheit zu sein scheint. Dabei ist es tatsächlich nur das: Schein. „Der Großteil der Hasskommentare geht von rund fünf Prozent der Nutzer*innen aus“, erklärt der Trainer nachher. „Die Angegriffenen sind weniger von den Hasskommentaren verletzt als davon, dass die meisten schweigend zuschauen.“
Nach dem Rollenspiel kurze gemeinsame Reflexion. Die anderen hatten ähnliche Probleme wie ich: Es fällt schwer, besonnene Gegenrede zu formulieren, wenn von Seiten der Trolle im Minutentakt gehetzt wird. Bei den Zuschauenden siegt schnell die Unsicherheit und damit: das Wegschauen. Daher will Love-Storm vor allem eines: die Gemeinschaft aktivieren. Niemand soll mit Hassrede alleingelassen werden, und niemand soll sich allein gegen sie einsetzen müssen.
In der zweiten Simulation klappt dieses Prinzip schon besser: Diesmal lädt eine muslimische Journalistin zu einer Lesung von ihr ein. Jetzt muss ich die Angreifende spielen, was mir sehr unangenehm ist – und erschreckend leichtfällt. Meine Statements gegen die Journalistin speisen sich aus Dingen, die ich nie im Leben sagen würde, die sich aber durch all die Hasskommentare, denen ich schon begegnet bin, in meinem Kopf festgesetzt haben. Diesmal funktioniert das Entwaffnen besser: Die Eingreifenden sprechen die Angegriffene aktiv an, mobilisieren für das Event und ignorieren mich Troll weitgehend. Es fällt schwer zu hetzen, wenn einem niemand Futter gibt. Die Angegriffene resümiert: „Ich habe die Angriffe nicht so persönlich genommen, weil ich das Gefühl hatte, dass diese Meinung in der Minderheit war und wenig Fundament hatte.“
„Aus meiner Passivität komme ich noch nicht heraus“
Zum Abschluss des 90-minütigen Trainings werden wir Teilnehmer*innen in eine Trainingsgruppe aufgenommen. Fallen uns in Zukunft Hasskommentare auf, können wir unsere Love-Storm-Mitstreiter*innen aktivieren und gemeinsam eine Gegenrede-Aktion starten. Eine Love-Storm-Trollarmee ist eine schöne Idee. „Leider ist es aber sehr selten, dass wirklich mal eine Aktion gestartet wird“, sagt Kunter. Dabei haben er und sein Team inzwischen 2.000 Menschen trainiert. „Den meisten fällt es schwer zu entscheiden, wann sie Leute für eine Aktion zur Hilfe rufen und wann nicht“, sagt er.
In den ersten Tagen nach dem Training bin ich auch ratlos: Was fange ich mit den gewonnenen Kompetenzen an? Werde ich nun wirklich allen Angegriffenen im Netz zu Hilfe eilen? Ich scanne meine Social-Media-Feeds aufmerksamer nach Hatespeech. Es macht mich wütend, welche zu finden, aber ich schreite nicht ein. Warum? Die Pöbeleien und Hasskommentare sammeln sich unter Posts von Prominenten. Leute aus meinem näheren Umkreis sind nicht betroffen. Ich finde nur dumpfe, pauschale Äußerungen über Gruppen von Menschen, keine persönlichen Beleidigungen, niemand wird direkt verbal angegriffen. Oder ist das nur eine Ausrede, die ich mir zurechtlege? Es fällt mir zwar schwer, das einzugestehen, aber aus meiner Passivität komme ich noch nicht heraus. Ich habe keinen Nerv, bei jedem Post einzuschreiten. Vielleicht brauche ich noch weitere Love-Storm-Trainings, damit ich nicht nur dann aktiv werde, wenn es meine Freund*innen trifft.
Diese drei Strategien empfiehlt Love-Storm gegen Hass im Netz
1. Angreifende schützen und stärken
Am besten gelingt das, indem man Position für die angegriffene Person bezieht und sie direkt anspricht: Was ist deine Perspektive? Wie kann ich dich unterstützen? Dabei ist es essenziell, Solidarität zu bekunden – selbst wenn man die Meinung der Person gar nicht teilt. Es geht nicht um Meinungen, sondern darum, sich klar gegen Hetze, Hass und Beleidigungen zu positionieren. Die angegriffene Person soll das Gefühl bekommen, dass sie nicht allein ist.
2. Zuschauende mobilisieren
Wie das geht? Mit gutem Beispiel vorangehen und deutlich Position gegen Menschenverachtendes beziehen. Wer Menschen direkt anspricht und zu einer Diskussion anregt, kann ihnen die Angst und Unsicherheit nehmen.
3. Angreifer*innen gewaltfrei Grenzen setzen
Wichtigste Strategie im Kampf gegen Hass im Netz: sich nicht auf das Niveau der Trolle begeben. Also immer schön sachlich und gewaltfrei auftreten und argumentieren. Was hilft: Diskussionsregeln einfordern. Humor sollte nicht herablassend eingesetzt werden, das könnte eher noch mehr Hass erzeugen. Sind Trolle diskussionsbereit, kann man stichfeste Argumente einfordern und Beweggründe abklären. Auch hier gilt: Menschenverachtende Äußerungen klar kennzeichnen, melden, Gegendarstellung bringen, immer beim Thema bleiben. Wenn gar nichts hilft: Ignorieren nimmt vielen Hetzer*innen das Feuer.
Illustration: Raúl Soria