Thema – Gender

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„Keine Vulva ist so groß, dass man die Straße nicht langgehen kann“

Was hat die Schönheitsindustrie von unseren „Schamteilen“, warum helfen Quoten nicht allen Frauen, und müssen wir zärtlicher mit den Männern sein? Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal macht entschiedene Ansagen

Frauen

fluter: „Smash the Patriarchy“ ist einer der Lieblingssprüche feministischer Straßenkämpfe. Auch die Werbeindustrie hat den Spruch für sich entdeckt. Wo machst du das Patriarchat konkret am Alltag fest?

Mithu Sanyal: Ich lebe in einer Gesellschaft, die immer noch ganz klare Vorstellungen davon hat, was männlich ist und was weiblich. Und das, obwohl wir mittlerweile eine Kategorie für ein drittes Geschlecht haben. Ich habe das Gefühl, dass wir härter in männlich und weiblich einteilen als in den 1970er-Jahren – vor allem wenn es um das Aussehen von Menschen geht. Kleidung ist geschlechtsspezifischer, die Spielzeuge sind wieder pink und himmelblau. Das Patriarchat zeigt sich auch darin, wie der Arbeitsmarkt aufgebaut ist, welchen gesellschaftlichen Erwartungsdruck es gibt, wie öffentliche Räume gestaltet sind, also dass zum Beispiel der Wickeltisch in den Frauentoiletten ist.

Und wie sind wirtschaftliche Fragen mit dem Patriarchat verknüpft?

Ich glaube, dass der Kapitalismus ohne Patriarchat funktionieren könnte. Ich höre häufig, dass wir mehr Frauen in Vorständen von DAX-Unternehmen brauchen. Das interessiert mich überhaupt nicht. Ich möchte grundsätzlich die Existenz von DAX-Vorständen hinterfragen. Warum brauchen wir überhaupt eine so stark durchhierarchisierte Gesellschaft mit so unglaublich unterschiedlich bezahlten Jobs? Den Gender-Pay-Gap gibt es. Aber: Eine Putzfrau verdient immer noch viel weniger als ich. Es gibt so viele andere Pay-Gaps, die wir nicht im Blick haben. Darüber müssen wir auch reden.

„Das Problem an den Kopftuchdebatten in Deutschland ist, dass sie oft einen kolonialen Beigeschmack haben: Nur wir wissen, was wirkliche Frauenbefreiung ist“

Brauchen wir Frauenquoten?

Wir haben ganz lange auf Selbstverpflichtung gesetzt, gerade in der Wirtschaft. Selbstverpflichtungen funktionieren aber einfach nicht, während Quoten Menschen dazu zwingen, in anderen Bahnen zu denken. Außerdem geht es um Repräsentation: Wenn du durch eine Quote eine andere Repräsentation erwirbst, werden vielleicht mehr Menschen eine Ausbildung zu einem bestimmten Beruf machen. Weil sie wissen: Dort habe ich auch eine Chance. Und trotzdem ist die Quote ein Instrument, das viele Haken hat. Oft ist es so, dass bei einer Geschlechterquote erst einmal mehr weiße Frauen eingestellt werden oder Frauen derselben Schicht. Es wird nicht alles automatisch viel diverser. Ich finde außerdem, man sollte Quoten nicht nur bei Topjobs einführen, sondern auch dort, wo Männer total unterrepräsentiert sind. Dann eben Männerquoten.

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Auch eine Uniform: lange Haare (Foto: Stefan Reichmann)
Auch eine Uniform: lange Haare (Foto: Stefan Reichmann)

Welche Rolle spielen Jungs und Männer im Kampf gegen Ungleichbehandlungen?

Es gibt eine tolle Definition, dass im Patriarchat die Arbeit und die geistige Leistung von Frauen unterbewertet werden, sowie die Gefühle von Männern. Verglichen mit der Gesellschaft vor 20 Jahren hat man bei der Bewertung der geistigen Leistung von Frauen Quantensprünge gemacht, auch wenn es da noch viel zu tun gibt. Bei Männern sind wir da noch nicht so weit, da heißt es immer noch: Sei ein Mann! Es gibt Studien dazu, dass Eltern ihre Jungs seltener in den Arm nehmen und trösten, dass sie sogar weniger mit Jungs reden und eine weniger blumige Sprache verwenden. Hier müssen wir ran, weil das natürlich Folgen hat, auch für das Geschlechterverhältnis. Wenn du Jungs abtrainierst, Empathie für sich selbst zu haben, wie sollen sie tiefe Empathie für ihre Freundinnen haben? Das ist die eine Seite.

Und die andere?

Männer leben im Patriarchat kürzer als Frauen. Sie gehören zu den Hochverdienern, aber es gibt auch mehr obdachlose Männer, Männer haben mehr Verkehrsunfälle, werden öfter Opfer von Gewaltverbrechen, sie werden auch häufiger Täter. Männer sind nicht das egoistische Geschlecht. Deswegen muss sich strukturell etwas ändern.

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Sex sells (Foto: The Advertising Archives/picture alliance)
Sex sells: Dieser Spruch galt in der Werbung lange – manchmal gilt er immer noch (Foto: The Advertising Archives/picture alliance)

Du hast mit der Journalistin Gunda Windmüller die Petition ins Leben gerufen, dass im Duden statt Schamlippen Vulvalippen stehen soll. Warum ist das wichtig?

Es ist ein riesiges Problem, dass wir über Genitalien als Scham-Teile reden. Als müssten die versteckt werden. Das galt historisch für alle Genitalien und heute vor allem für die Vulva. Gleichzeitig wollen wir aber auch gegen den Boom der sogenannten ästhetischen Chirurgie vorgehen. Die hat sich nämlich eine Krankheit ausgedacht: Labienhypertrophie, also vergrößerte innere Vulvalippen. Das gibt es aber nicht als Krankheit. Es gibt keine Vulva, die so groß ist, dass man die Straße nicht langgehen kann. Ganz lange war die Vulva unsichtbar. Also ich wusste nicht, wie eine Vulva aussieht. Aber an dem Punkt, wo sie sichtbar wurde, war ganz klar, wie eine „richtige“ auszusehen hat. Der Gedanke, dass die äußeren Vulvalippen größer sein müssten als die inneren, ist anatomisch totaler Quatsch. Aber die eine Form gilt gesellschaftlich als die richtige, und die anderen gelten als Abweichung. Es wird suggeriert, dass man sich dann dafür schämen muss.

Nach deinem ersten Buch „Vulva“ hast du ein Buch über Vergewaltigung geschrieben. Warum wird in unserer Gesellschaft vergewaltigt?

Vergewaltigungen hängen stark mit Hierarchien und Machtverhältnissen zusammen. Es ist kein Zufall, dass es im Gefängnis zu mehr Vergewaltigungen kommt als außerhalb, dass es im Militär mehr Vergewaltigungen gibt als in der Zivilbevölkerung. Die meisten patriarchalen Staaten zeichnen sich durch eine sehr große Durchhierarchisierung aus. Deshalb gibt es natürlich Berührungspunkte. Ganz lange wurden in der Gesellschaft nur Frauen als Opfer von Vergewaltigung anerkannt, weil die Ehre historisch je nach Mann oder Frau an unterschiedliche Sachen geknüpft war. Bei der Frau ging es um ihren Körper, der Mann hingegen hatte seine Ehre auf dem Schlachtfeld zu verteidigen. Es konnte nach diesem Denken nur Frauen durch eine Vergewaltigung ihre Ehre gestohlen werden.

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Rosa (Foto: Kirsty Mackay)
Alles in Rosa: Viele Mädchen werden früh in eine Schublade gesteckt (Foto: Kirsty Mackay)

Unter Feminist*innen gibt es oft auch Streit. Manche kritisieren zum Beispiel, dass Transfrauen in ihre Schutzräume eindringen, oder empfinden sich in Diskussionen benachteiligt, wenn es um mehrere Geschlechter geht und nicht mehr um die Frau allein. Beschneidet die Aufspaltung in viele Identitäten gegenüber binären Geschlechtervorstellungen den Kampf der Frauen?

Ich glaube, da geht gerade ganz viel durcheinander. Feministinnen, die Transfrauen nicht in Frauenräumen wollen, argumentieren damit, dass Menschen, die mit einem Penis geboren wurden, bedrohlich sind. Und das ist natürlich Unsinn. Doch Menschen, die sich bedroht fühlen, zu sagen: „Du musst offen sein“, funktioniert einfach nicht. Ich wünsche mir sehr, dass wir einen Weg finden, das zu lösen. Wir haben das ja auch mit anderen Gruppen geschafft. Als Women of Color gesagt haben, wir fühlen uns von eurem Feminismus nicht wirklich repräsentiert. Oder Alleinerziehende. In feministischen Kreisen ist es so wie in jeder Gruppe, erst mal setzt sich die Norm durch, und dann müssen andere Leute sagen: „Halt, uns und unsere Bedürfnisse gibt es auch noch.“ Und im besten Fall kann man das produktiv aushandeln, und es werden mehr Werte berücksichtigt. Aber wir müssen über die unterschiedlichen Bedürfnisse auch im politischen Kampf reden. Wir müssen in einer Gesellschaft bestimmen können, welche Gruppen es gibt, damit wir uns für deren Rechte einsetzen können.

Wenn es um Kritik am Islam geht, entdecken plötzlich konservative Politiker*innen ihr Herz für Frauenrechte. Umgekehrt scheinen Linke ihre Solidarität mit der Frauenbewegung einem unkritischen Blick auf den Islam zu opfern.

Das ist ein riesiges Thema, das ja gerade an den Debatten über die Revolution im Iran deutlich wird. Ich glaube, alle sind sich einig, gegen den Kopftuchzwang zu sein.

Aber?

Manchmal wird es so dargestellt, als wären die Frauen im Iran gegen das Kopftuch. Nein, sie sind gegen den Zwang! Das Problem an den Kopftuchdebatten, wie sie häufig in Deutschland geführt werden, ist, dass sie einen kolonialen Beigeschmack haben. Der Gedanke dahinter ist: Nur wir wissen, was wirkliche Frauenbefreiung ist. Ich weiß von vielen Frauen, die von Pakistan nach Deutschland gekommen sind und schockiert darüber waren, wie sexistisch die Gesellschaft hier ist. Abgesehen davon hatten Indien und Pakistan lange vor Deutschland Ministerpräsidentinnen. Das eine heißt aber nicht, dass es nicht auch Probleme gibt, die man sich angucken muss. Aber zu sagen, dass eine Frau mit Kopftuch keine Feministin sein kann, ist genauso Blödsinn wie die Aussage, dass eine Frau mit hochhackigen Schuhen keine sein kann.

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Mithu Sanya (Foto: Thomas Lohnes/Getty Images)
(Foto: Thomas Lohnes/Getty Images)

Gender, Sex und Klasse: Mithu Sanyal hat dazu mehrere Bücher geschrieben, darunter „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“, „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ und zuletzt „Identitti“, ihren ersten Roman.

Titelbild: Norbert Eisele-Hein | imageBroker/picture alliance; Elizabeth Waterman @elizabeth.waterman (IG) www.elizabethwaterman.com; NurPhoto/picture alliance; Museum of London/Heritage Images/Getty Images; Siegfried Pilz | United Archives/picture alliance

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