Jeder einzelne aber auch ganze Gemeinschaften können nicht anders, als sich ständig zu erinnern. Sonst wäre es unmöglich, zu lernen und eine Identität auszubilden. Selbstverständlich? Nicht wenn man den Gedächtnissoziologen Oliver Dimbath von der Uni Koblenz-Landau fragt. Der kann nur warnen: Woran wir uns erinnern, ist oft trügerisch.
fluter.de: Trauen Sie als Wissenschaftler Ihrer eigenen Erinnerung überhaupt noch?
Oliver Dimbath: Natürlich müssen wir uns im Alltagsleben auf unser Erinnerungsvermögen verlassen können – sonst wäre es unmöglich, Erfahrungen zu machen und aus Erlebnissen etwas zu lernen. Aber wenn man sich mit den Voraussetzungen des individuellen Erinnerns länger beschäftigt, würde ich zur Vorsicht raten.
Warum?
Aus erinnerungspsychologischer Sicht ist jedes Erinnern kein Rückgriff auf die Vergangenheit. Ich kann ja nicht in eine Zeitmaschine springen. Weil wir immer nur in der Gegenwart sein können, bleibt uns nichts übrig, als auf die Spuren unserer Wahrnehmungen zurückzugreifen, die bestimmte Erlebnisse in unserem Bewusstsein oder unserem Organismus hinterlassen haben. Das wiederum heißt: Wir können gar nicht authentisch auf ein vergangenes Ereignis zugreifen. Denn immer wenn wir daran denken, bearbeiten wir diese Erzählung aufs Neue.
Schilderungen von Zeitzeugen sind also mit Vorsicht zu genießen? Sie gelten den Laien ja oft als besonders glaubwürdige historische Informationsgeber.
Zeitzeugen haben eine andere Funktion. Sie stehen für eine bestimmte Sicht auf die Vergangenheit, die sie durch ihr eigenes Erleben authentisch und mit besonderem Recht vertreten können. Aber sie werden nicht umsonst als die „natürlichen Feinde der Historiker“ bezeichnet, weil ihre Erinnerungen immer aus den Belangen ihrer gegenwärtigen Situation gespeist sind. Da kann das Interview mit einem Biografieforscher zu anderen Aussagen führen als die gleiche Geschichte am Bett der Enkel.
Wenn die eigene Erinnerung schon sehr trügerisch ist, wie kann dann ein gesellschaftliches Erinnern funktionieren?
Das gemeinsame Erinnern ist anders als das persönliche Erinnern nicht zufällig, sondern wird geplant. Für den Zusammenhalt einer Gruppe kann es wichtig sein, sich an die Gründe ihres Zusammenseins zu erinnern. Sie schafft dann einen meist durch Rituale oder Feiern organisierten Raum für gemeinsame Vergangenheitsbezüge. Vielleicht kann man das so sagen: Je seltener sich die Mitglieder einer Gruppe begegnen, desto wichtiger sind gemeinsame Erinnerungsrituale, die den Gruppenzusammenhalt stärken. Die Nation feiert deshalb ihr Gründungsjubiläum mit einem Feiertag, an dem die Arbeit ruhen soll. Gesellschaftliches Erinnern dient der Erhaltung von etwas, das man als Gruppen- oder als kollektive Identität bezeichnen kann. Und die Geschichtsschreibung ist ein Teil dieser Funktion. Sie ist eine Form des Erinnerns, wobei aus der Sicht des Geschichtsschreibers Wissen erzeugt und in der Regel schriftlich festgehalten wird. Wenn er über die Ausbildung des Historikers verfügt, wird er um Quellentreue bemüht sein. Trotzdem konstruiert er eine Geschichte über die Vergangenheit.
„Wir können gar nicht authentisch auf ein vergangenes Ereignis zugreifen. Denn immer wenn wir daran denken, bearbeiten wir diese Erzählung aufs Neue“
Besteht, wenn es um geplantes Erinnern geht, auch die Gefahr der Verzerrung?
In demokratischen Systemen ist die Chance höher, dass in der Geschichtsschreibung unterschiedliche Perspektiven auf Vergangenes erhalten bleiben. In autoritären Systemen müssen all jene Geschichten verschwinden, die nicht zum vorherrschenden politischen Willen passen. Oder anders gesagt: Das politisch-kulturelle System prägt die Art und Weise der Geschichtsschreibung und ihrer Verwendung.
Und was ist mit der Religion? Die schafft doch auch Erzählungen über Vergangenes.
Die Entstehung der Religion ist eng mit dieser Motivation verbunden, sich gemeinsam zu erinnern. Die Christenheit feiert Weihnachten, um sich des fortbestehenden Bekenntnisses zum christlichen Glauben zu versichern. Durch die Festlegung eines Kanons heiliger Schriften wird geklärt, welche Dokumente im Rahmen von rituellen Feiern verwendet werden, um die Gruppe an das zu erinnern, was ihre Welt im Innersten zusammenhält. Ein solches Erinnern bildet Mythen aus, die sich von den eigentlichen Ereignissen immer weiter entfernen können. Wichtig ist nicht die historische Wahrheit, sondern die gesellschaftliche Funktion. Rituale des gemeinsamen oder sozialen Erinnerns stiften die Ordnung der Gemeinschaft. Aber so ist das auch mit der heutigen Erinnerungskultur, die für unser demokratisches Zusammenleben als sinnstiftend erachtet wird. Bei uns wird die Erinnerungskultur allerdings nicht von oben bestimmt, sondern sie ist Teil eines transparenten und komplexen Diskussionsprozesses. So kann die Gefahr einer Ideologisierung im Zaum gehalten werden.
Was halten Sie für ein zeitgemäßes Konzept des gesellschaftlichen Erinnerns?
In Demokratien ist die Frage nach den Ereignissen, an die man sich gemeinsam erinnern will, legitimationsbedürftig und immer strittig. Ungewöhnlich ist zum Beispiel die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, eine Erinnerungskultur auszubilden, die nicht heroisch, triumphalistisch auf die Großartigkeit der Nation gerichtet ist. Wir Deutsche kennen auch den nationalen „Helden“ einer schlimmen Vergangenheit. Deutsche Erinnerungskultur pflegt aus gutem Grund auch die Erinnerung an die Krisen der Gemeinschaft. Im Vergleich mit anderen Erinnerungskulturen ist die daraus hervorgehende Entwicklung einer spezifisch deutschen Identität schon etwas Besonderes, was man als zivilisatorischen Fortschritt verstehen kann.
„In demokratischen Systemen ist die Chance höher, dass unterschiedliche Perspektiven auf Vergangenes erhalten bleiben. In autoritären Systemen müssen all jene Geschichten verschwinden, die nicht zum vorherrschenden politischen Willen passen“
Wie verändert das Internet und die Schnelllebigkeit der Datenströme unser Erinnern?
Schon Platon klagt über die Erfindung der Schrift, dass sie dazu verleite, sich nichts mehr merken zu müssen. Der Soziologe Max Weber hat am Übergang ins 20. Jahrhundert angemerkt, dass es nicht mehr nötig sei, alles Mögliche zu wissen. Vielmehr sei wichtig zu wissen, wo man nachschlagen kann. Tatsächlich verändert sich dadurch etwas in der Kultur des Vergangenheitsbezugs. Sich an möglichst viele Geschichten zu erinnern ist vielleicht keine lebenswichtige Fähigkeit mehr. Heute erscheint es wichtiger, sich die Organisation der Informationsbeschaffung selbst bewusst zu machen. Wir können uns das Wissen im Netz beschaffen. Allerdings müssen wir damit rechnen, dass die Organisation dieses Wissens durch irgendetwas gesteuert wird. Nur wenn wir wissen, wer nach welchen Regeln auswählt und als soziales Gedächtnis tätig wird, haben wir Kontrolle über das, was unser eigenes Erinnern beeinflusst.
Gibt es etwas, wovon Sie sagen: Daran müssten wir uns als Gesellschaft wieder viel mehr erinnern?
Ich will nicht nostalgisch klingen. Deswegen sage ich: Wichtig erscheint mir, dass Gesellschaften über ihr kollektives Erinnern nachdenken und diskutieren. Und es ist gut, dass mehrere Perspektiven zugelassen und als Geschichtsschreibung archiviert werden. Die Zukünftigen können dann besser entscheiden, welche Vergangenheit sie für sich als wichtig erachten.
Fotos: Johannes Heinke