Es ist noch nicht lange her, da ahnte Jutta Fritzsche beim Blick aus dem Fenster die Bedrohung ihrer Heimat. Fritzsche lebt in Papenhöfen, einem Ortsteil der mit gut 5000 Einwohnern recht kleinen Stadt Marienmünster in Ostwestfalen. Von der Küche aus schaut sie ins Grüne, auf die Felder. Genau dort hätten die stählernen Kolosse stehen sollen, gigantische Strommasten.
Vor ein paar Jahren versetzte eine Nachricht Fritzsche und den ganzen Ort in Aufruhr: Südlink, eine geplante Hochspannungstrasse quer durch Deutschland, könnte auch an ihrer kleinen Idylle in Papenhöfen vorbeiführen. Vor den Fenstern, über die Felder, sogar durch das Naherholungsgebiet, wo das ganze Dorf spazieren geht oder sich zum Osterfeuer trifft. „Das wollten wir natürlich verhindern.“ Fritzsche und weitere Bürgerinnen und Bürger formierten sich – wie überall entlang der Südlink-Schiene.
Strommasten? Stören den Blick aus dem Fenster
Bislang transportieren 35.000 Kilometer Höchstspannungsleitungen den Strom durch Deutschland. Doch die Energiewende erfordert neue Netze, erklären die Betreiber. Mehr als 7500 Kilometer müssen verbessert, verstärkt oder neu gebaut werden. Ab 2025 soll Südlink den Strom von der Nordsee, wo riesige Windparks entstanden sind, nach Bayern und Baden-Württemberg bringen, wo viele Menschen wohnen und die großen Industriebetriebe ansässig sind – und wo bald die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Manche sind der Meinung, man könne auf die Riesennetze verzichten, wenn mehr Strom durch Wind- und Sonnenkraft vor Ort erzeugt würde. Ob das stimmt, ist allerdings umstritten.
Am Anfang, erzählt Fritzsche, sei das Dorf in seinem Kampf sehr entschlossen gewesen: Südlink sollte am besten komplett gestoppt werden. Gehör fand man damit kaum. Dann änderten einige Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung: Wenn die Netze wirklich ausgebaut werden müssen, dann zumindest ohne Monstermasten in der Landschaft – und stattdessen mit unterirdischen Leitungen, die den Blick aus dem Fenster nicht stören.
Bürgerinitiativen aus mehreren Orten schlossen sich zur „Erdkabel Offensive Südlink“ zusammen. Und mit einem Mal, so Fritzsche, hätten die Kritiker überall Gesprächstermine bekommen. Bei der Stadt, bei der Landesregierung, auch bei Bundespolitikern in Berlin. „Uns ging es jetzt nicht mehr um das Ob des Netzausbaus, sondern um das Wie“, berichtet Jutta Fritzsche, die den Zusammenschluss koordinierte.
Unterirdisch wird es teurer – für den Stromkunden
Fritzsche und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter waren erfolgreich: 2015 trat ein Gesetz in Kraft, wonach Stromautobahnen wie Südlink vorzugsweise unter der Erde verlaufen und nur noch in Ausnahmefällen an großen Masten hängen sollen. „Wir haben unser Ziel erreicht“, bilanziert Fritzsche. Damit könnte die Geschichte vom Bürgerprotest gegen den Netzausbau zu Ende sein.
Für den Netzbetreiber Tennet, der Südlink plant, bedeutet die Erdkabel-Vorschrift vor allem, dass es teurer wird: Das Terrain muss erkundet, der Boden aufgerissen und wieder zugeschüttet werden. Manche Gegenden wie die Mittelgebirge sind mit Erdkabeln besonders kompliziert zu überbrücken. Mit oberirdischen Kabeln hätte die Trasse drei Milliarden Euro gekostet, jetzt rechnet Tennet laut Unternehmenssprecherin Ulrike Hörchens mit Investitionen von zehn Milliarden Euro. „Diese Mehrkosten wird am Ende der Stromkunde tragen“, sagt sie. Wie stark der Preis steigen wird, ist schwer abzuschätzen. Als Faustregel gilt Hörchens zufolge: 10 Milliarden Euro mehr Investition in die Netze erhöht die Stromrechnung eines Durchschnittshaushaltes um sechs Euro pro Jahr.
Nicht miteingerechnet sind dabei die Kosten zur Netzstabilisierung. Solange die neuen Stromtrassen nicht fertiggestellt sind, müssen zum Beispiel im stürmischen Herbst die Windparks an der Küste in ihrer Leistung gedrosselt werden, wenn sie mehr Energie liefern als verbraucht werden kann. Im Jahr 2017 entrichtete alleine Tennet dafür rund eine Milliarde Euro an Entschädigungen an die Betreiber. Auch dafür zahlen am Ende die Stromkunden.
„Die Politiker haben sich gedacht: Wir machen ein Erdkabel und die Leute halten‘s Maul. Aber es weiß doch kein Schwein, was da in der Erde passiert.“
Die Erdkabelpläne, die Jutta Fritzsche in Ostwestfalen nun freuen, bereiten dem Landwirt Norbert Kolb im bayerischen Bergrheinfeld bei Schweinfurt allerdings große Sorgen. Zwar steht der genaue Trassenverlauf für Südlink noch nicht fest. Dass er an Bergrheinfeld vorbeiführen wird, ist aber sicher, und dass die Kabel unter Kolbs Äckern liegen sollen, mit großer Wahrscheinlichkeit auch. Auf fünf seiner Felder könnten dann bald die Bagger anrücken, den Boden abtragen und die Schneise für das Erdkabel legen: 400 Meter lang, 20 Meter breit. Während der Bauarbeiten könnte Kolb somit auf etwa 1,6 seiner zehn Hektar großen Fläche keinen Weizen, keinen Raps und keine Gerste pflanzen. Noch mehr Gedanken macht er sich darüber, ob das Getreide an diesen Stellen jemals wieder so wachsen wird wie vorher, wenn die Gräben zugeschüttet sind. „Die Politiker haben sich gedacht: Wir machen ein Erdkabel und die Leute halten‘s Maul“, meint Kolb. „Aber es weiß doch kein Schwein, was da in der Erde passiert.“ Solange die Kabel verlegt werden, erhält er eine Entschädigung von Tennet. Im Falle von künftigen Ernteausfällen bleibe er jedoch auf dem Schaden sitzen.
Viele Landwirte befürchten, dass die Kabel in bis zu zwei Metern Tiefe Wärme abgeben und infolgedessen die Erde zu trocken wird. Oder dass die wasserführenden Schichten sich verschieben und das Getreide verdorrt. Die Netzbetreiber verweisen zwar auf Studien, wonach die Erdkabel die Ernteerträge nicht nennenswert mindern. Kolb indes ist nach wie vor skeptisch. Mit anderen Landwirten im Ort hat er sich daher in einer Bürgerinitiative zusammengetan. Dass sie gegen das Erdkabel kämpfen, betont er, heißt aber nicht, dass sie die Masten wollen. Denn in deren Nähe müssen Bauern vorsichtiger mit ihren großen Maschinen umgehen, Landwirtschaft wird so schwieriger und teurer. Es bleibt kompliziert.
Gegen den Strom Teil I: „Von nebenan in die Steckdose“
Titelbild: BENJAMIN KILB/NYT/Redux/laif