Márcio Pereira da Silva schiebt sich durch den Verkehr auf einer von Mototaxis verstopften, sich steil den Berg hinabschlängelnden Straße. Er trägt orangefarbene Flip-Flops und Badehose. Der 49-Jährige, der wirkt wie ein 29-Jähriger, hat seinen Enkel, zwei Jahre alt, um den Körper geschnallt und hangelt sich über einen Balkon und eine Treppe hinauf in den dritten Stock auf eine Dachterrasse. Ein halbes Dutzend Jugendliche sitzen schon hier, auf Mauerresten. Einer von ihnen, Fábio, steht an einer Werkbank. Ein anderer starrt auf sein Handy, dann gestikuliert er, als manövriere er ein unsichtbares Surfbrett durch eine Riesenwelle. Márcio knipst das Licht in einem kleinen Kabuff auf dem Dach an und sagt: „Fühlt euch wie zu Hause.“
Überall wollen Jugendliche Fußballer werden, hier in der Favela Rocinha träumen alle vom Surfen
Hunderte Surfbretter lehnen an der Wand, daneben ein Kanister mit Wachs, abgebrochene Finnen, ein selbst gebauter Bock, von Tape und einem Gürtel zusammengehalten. Ein Hundehäuschen, ein BMX-Hinterrad, ein Friseurstuhl. Jemand hat „ASR“ an die Wände gesprayt, Associação de Surf da Rocinha. Das hier sei das Haus seines Vaters, erklärt Márcio, für ein eigenes Vereinsheim reiche das Geld nicht. Von der Terrasse blickt man auf Tausende bunte Häuser der riesigen Favela, einen beeindruckenden Granitfelsen, Regenwald und darunter, wie das Ende der Welt, auf den Strand von São Conrado.
Anderswo wollen Jugendliche Fußballspieler werden, hier in der Favela Rocinha, im Süden Rio de Janeiros, träumen alle vom Surfen. Hunderte haben mit dem Sport ihr Leben verbessert. Finanziell und sozial. Der Sport ist ein Ausweg. Eine Flucht vor den Drogen und den Gangs, die für Jugendliche in der Rocinha Alltag sind. „Das Surfen hat mich gerettet“, sagt Márcio, „und das gebe ich heute weiter.“
Seit sieben Jahren betreibt er die Associação de Surf da Rocinha, die sich über eine Reparaturwerkstatt für Surfbretter finanziert. „Wenn die Regierung nicht hilft, müssen wir es selbst tun.“ In den letzten Jahren aber kam ein neues Problem hinzu. Immer wieder mussten die Jugendlichen durch dicke Müllschichten im Wasser paddeln. Manchmal ist das Surfen für Wochen unmöglich, weil heftige Regenfälle große Mengen des Abfalls, der in den Straßen der Favela mit ihren nach inoffiziellen Schätzungen 250.000 Bewohnern nicht entsorgt wird, an den Strand spülen.
Manchmal spült der Regen nicht nur Müll, sondern ganze Häuser weg. Dann räumen die Surfer erst mal auf
Die Rocinha ist ein gigantischer Slum auf wertvollem Boden, denn sie grenzt an drei der reichsten Stadtteile Rios. Das Leben hier ist prekär. Immer wieder brechen Tuberkuloseepidemien aus, regelmäßig sterben Menschen bei Schusswechseln rivalisierender Gangs. Perspektiven für Jugendliche sind rar. Der Drogenhandel verspricht eine zu sein. „Eine bessere Alternative“, sagt Márcio, „ist das Meer.“
„Surfen war immer schon ein wichtiger Teil der Rocinha.“ Márcio zeigt ein Fotoalbum, darin Fotos von Jungs, vielleicht drei, vier Jahre alt. Ganz hinten klebt ein Bild von Carlos Belo, einem der besten Surfer der Rocinha, auf dem Siegertreppchen, nach einem Wettkampf. „Wir haben keine Autos, kein Geld und kaum Möglichkeiten“, sagt Márcio, „aber wir haben den Strand São Conrado mit Wellen von zweieinhalb Metern Höhe.“
2012 hat Márcio die ASR gegründet, er knüpfte damit an Rocinhas Surfpioniere an, Jungs mit Namen wie Suruba – Orgie – und Lula – Tintenfisch. Márcio ging als Kind täglich an den Strand, um sie zu beobachten. Er selbst surfte ohne Brett, indem er Hände und Arme streckte, den Körper versteifte und sich so über der Welle hielt. Als Jugendlicher schnitt er dann Holzbretter zurecht, später klaute er Styropor von Baustellen und umwickelte es mit Klebeband. „Die Welle in São Conrado gehört zu den besten der Welt“, sagt Márcio. Sie breche abrupt ab, man müsse schnell paddeln und schnell aufstehen. „Die Welle ist brutal und nichts für Anfänger.“ Deshalb, das ist Márcios Theorie, surfen die Kids aus der Rocinha besser als die anderen. Entweder gut oder gar nicht.
Fábio schnallt ein Surfbrett auf die Werkbank, eine Bruchstelle verläuft quer über das Brett. Er zieht Kreppband über die Ränder, verteilt eine weiße Masse über dem Riss. Etwas später zieht er einen Mundschutz über und schleift die eingetrocknete Masse ab. Selbst die Surfer aus den reichen Vierteln Rios bringen ihre Bretter zu Fábio, er gilt als der beste Reparateur der Stadt. Mit diesen Aufträgen finanziert die ASR Kurse und Wettbewerbe und vor allem das provisorische Vereinshaus auf dem Dach von Márcios Vater. „Du hast keine Vorstellung, wie viele Jungs wir jedes Jahr an den Drogenhandel verlieren.“ Je länger die Jungs unbeschäftigt sind, desto wahrscheinlicher werde es, dass eine der Gangs sie erwischt. „Morgens um sieben sitzen die ersten Kids hier“, sagt Márcio, täglich gehen sie gemeinsam surfen. Die Erfahrung sei beim Surfen ebenso wichtig wie die Physis. Vom „Lesen des Meeres“ spricht Márcio. Doch das, was er heute sieht, mache ihm Sorgen. „Das Meer hat sich geändert.“
Eine Woche nach der Begegnung mit Márcio treffen Rio die stärksten Regenfälle seit über 20 Jahren. Zehn Menschen sterben, viele verlieren ihre Häuser, ganze Viertel stehen unter Wasser. Auch in der Rocinha haben die Wassermassen Menschen mitgerissen, den Hügel hinunter, Autos und Häuser zerstört. Das Abwassersystem funktioniert kaum mehr, der Müll wird an den Strand geschwemmt, das Wasser mischt sich mit Schlick aus der Kanalisation. Da die Stadtreinigung nichts tut, helfen sich die Surfer selbst. Sie bauen Klärfilter an die offenen Kanäle und organisieren Clean-ups, bei denen sie gemeinsam Müll sammeln.
„Wir klauben das Zeug vom Strand“, erzählt Márcio auf der Terrasse, „und dann kommt der Regen und vermüllt den Strand erneut.“ In der Favela gebe es Projekte, die Lösungen zur Müllvermeidung anböten. Doch der Staat habe die Unterstützung eingestellt. Die Kläranlage ist seit Monaten kaputt, der Müll sammelt sich meterhoch, und die Strömung treibt auch den Abfall aus anderen Vierteln an den Fuß der Rocinha.
Während Márcio über die Regierung schimpft, beginnt es zu dämmern. Die Jungs schauen Surfvideos, lachen. Einer sitzt abseits, in sein Telefon versunken. Er habe sich für die Regionalmeisterschaft qualifiziert, sagt der 16-jährige Rafael Silva, in Búzios, einem reichen Ort rund 200 Kilometer östlich von Rio. „Ich versuche, Geld für das Busticket zusammenzubekommen“, sagt er und zuckt mit den Schultern. „Ah, und einen Schlafplatz.“