Der Chefprogrammierer hat am Morgen angerufen und gesagt, er könne keine Hose anziehen. Er habe ein Ekzem an den Beinen, deshalb arbeite er heute von zu Hause aus. Gérard Sidoun ist stolz darauf, mit seinen Angestellten offen über alles reden zu können. Er weiß, wer in der Vergangenheit Schicksalsschläge erlitten und wer im Büro mit wem geschlafen hat. Andersherum funktioniert es genauso: Als er Liebeskummer hatte, hat er die Belegschaft informiert. Er kam mehrere Monate nicht ins Büro. Die Angestellten wissen auch, dass Sidoun mit zwei der Mitarbeiterinnen in einem Haus etwas außerhalb von Freiburg lebt. Und sie wissen, wie viel Geld die Firma jeden Monat erwirtschaftet.
„Unser Betriebsklima zeichnet sich durch Wahrhaftigkeit, Achtsamkeit und Freundschaft aus“, heißt es in einer Sidoun-Broschüre
In Stellenanzeigen verspricht das Freiburger Softwareunternehmen potenziellen Mitarbeitern kurze Entscheidungswege, flache Hierarchien, ein Frühstücksbüfett, frisch gekochtes Mittagessen, Massagesessel, einen Ruheraum, Segel- und Gleitschirmausflüge. Das klingt nach Start-up-Idylle. Doch die Softwarefirma gibt es schon seit 1977, und in den Räumlichkeiten fehlt jede Spur von hippem Flair: Bei Sidoun besteht das Frühstücksbüfett für die 33 Mitarbeiter aus Brötchen mit Aufschnitt, in einem schmucklosen Ruheraum steht der Massagesessel. Über der Tür des großen Konferenzraums hängt ein laminiertes Blatt mit der Aufschrift „Arena des Erfolgs“. Dort stehen an den Wänden Stühle, ein paar Sitzbälle liegen herum.
Jeden Morgen treffen sich hier alle zum großen Miteinander. Jetzt gerade steht da eine Handvoll Erwachsener, reißt die Arme dreimal in die Höhe und ruft: „Umsatz!“ Dann umarmen sie sich – und gehen an die Arbeit. „Unser Betriebsklima zeichnet sich durch Wahrhaftigkeit, Achtsamkeit und Freundschaft aus“, heißt es in einer Sidoun-Broschüre. Der Geschäftsführer nennt sich selbst „Samma“. Den Namen habe ihm sein Meister gegeben, sagt er – der verstorbene indische Guru Bhagwan, den er mit Anfang 20 in Indien kennengelernt hat und der seinen Anhängern Meditation und ein Leben ohne viel privaten Besitz predigte; wobei er selbst schon mal mit einem seiner 93 Rolls-Royce vorfuhr.
Zum Mittagessen gibt es Spaghetti Bolognese, frisch zubereitet von der Betriebsköchin Frau Jäger. Sie ist die Einzige, die bei Sidoun nicht mit Vornamen und „du“ angesprochen wird. Die meisten Mitarbeiter essen schnell und gehen dann zurück an die Arbeit. So wie Martina, die seit 22 Jahren bei Sidoun arbeitet. Sie ist damit eine der Dienstältesten, ihr Gehalt ist trotzdem eines der niedrigsten. Etwa 1.800 Euro netto landen im Monat auf ihrem Konto, sagt sie. „Wenn ich in den Urlaub fahre oder mir die Zähne machen lasse, dann hole ich mir schon einmal was extra“, sagt sie. „Ansonsten brauche ich das nicht.“
Gehaltserhöhung? Eine E-Mail an den Chef genügt
Seine Mitarbeiter bezeichnet Gérard Sidoun als „Mitunternehmer“. Denn: Jeder bekommt zwar monatlich einen fixen Betrag ausgezahlt, aber einmal im Monat wird in einer Konferenz die Finanzlage des Unternehmens offengelegt. Danach können alle per E-Mail angeben, ob sie in diesem Monat zusätzlich Geld ausbezahlt bekommen möchten.
Bei Sidoun arbeite man füreinander. Nicht nur miteinander. So steht es in einer Mappe, die jeder Angestellte bekommt. „Freundschaftlichkeit“ nennt Martina diesen Pfeiler der Unternehmenskultur. Neben ihrer Tätigkeit im Vertrieb leitet sie sogenannte Kaizen-Sitzungen. Nach dem japanischen Konzept soll sich das Betriebsklima durch Vertrauens- und Kommunikationsübungen ständig zum Besseren verändern. Die Kaizen-Sitzungen hätten ihr geholfen, sich im Arbeitsalltag von Sidoun zurechtzufinden, sagt die 29-jährige Jessi, die aus dem öffentlichen Dienst zu Sidoun gewechselt ist. Der Umgang miteinander hier sei gewöhnungsbedürftig, aber schön: „Ich kann meinem Chef um die Ohren knallen, was mir auf dem Herzen liegt. Dann diskutiert man das aus, und danach ist es gegessen.“
Neben Freundschaftlichkeit und Achtsamkeit, daraus macht Geschäftsführer Sidoun kein Geheimnis, zählt im Unternehmen vor allem Leistung. Auf Tafeln im Flur steht, welcher Vertriebsmitarbeiter in welchem Monat wie viel Umsatz gemacht hat. Bei großen Aufträgen darf der Verkäufer einen goldenen Gong schlagen.
Die Belegschaft habe sich im letzten Jahr wie eine Schlange gehäutet, erzählt ein Mitarbeiter
Sidoun will Marktführer im Bereich der Baumanagement-Software werden. Warum? „Ich will einfach immer der Beste sein“, sagt Gérard Sidoun. Überreste seiner Erziehung. Er ist studierter Mathematiker, ein strategisch denkender Mann. Meditation nennt er ein „interessantes Werkzeug“. Unter diese Kategorie fallen auch Mitbestimmungsrechte und flache Hierarchien, enge soziale Kontakte – oder zumindest die Idee von alldem: Das schaffe ein großes Verantwortungsgefühl für die Firma und führe im besten Fall zum beherzten Einsatz aller Mitarbeiter.
Es sei nicht einfach, die richtigen Leute für so ein Unternehmen zu finden. Sidoun sagt, er achte beim Bewerbungsgespräch darauf, ob jemand „mit sich in Kontakt“ sei. Das verrate ihm die Körpersprache oder – ganz einfach – die Antwort auf die Frage: „Wie geht’s?“. Doch auch von denen, die beim ersten Eindruck überzeugt haben und eingestellt wurden, sind viele nach kurzer Zeit wieder gegangen. Vertriebsleiterin Karoline, die 2005 bei Sidoun angefangen hat, sagt, aus ihrem alten Team arbeite kaum noch jemand in der Firma. Ein anderer Mitarbeiter sagt, die Belegschaft habe sich im letzten Jahr wie eine Schlange gehäutet.
Einfach bleiben und Dienst nach Vorschrift machen, das sei bei Sidoun dauerhaft keine Option. Die meisten, sagt Martina, gingen von allein, wenn sie merkten, dass sie hier nicht hinpassten. Die Achtsamkeit, die Umarmungen, das gemeinsame Kaizen – für manche ist es wohl einfach ein bisschen viel der „Freundschaft“.
Titelbild: Chef Gérard Sidoun macht keinen Hehl daraus, dass es ihm um Umsatz geht. Aber um ein gutes Miteinander eben auch. (Foto: Anne Morgenstern)