Hätte die Berlinale in diesem Jahr überhaupt stattfinden sollen? Unter dem Schock des rechtsextremen Anschlags von Hanau am Abend vor dem Festivalstart war in den sozialen Medien oft zu lesen: Wir können jetzt nicht einfach weitermachen. Sagt den Karneval ab, verschiebt die großen Sport- und Kulturevents!
Vermutlich hat die neue Berlinale-Leitung, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, eine spontane Absage trotz dieser Aufrufe nie ernsthaft in Betracht gezogen. Zum einen, weil sich ein Event mit Tausenden internationalen Gästen und einem Budget von 27,2 Millionen Euro – zu einem großen Teil (10,4 Millionen Euro) aus öffentlichen Geldern – nicht mal eben so absagen lässt. Zum anderen aber auch, weil sich das Festival als Botschafter einer anderen Gesellschaft sieht: weltoffen, sensibel, mit klarer Haltung gegen Hass und Diskriminierung. Das zeigte sich mit einer Schweigeminute für die Opfer von Hanau bei der Eröffnung, mit einer Lärmminute gegen Rechtsextremismus vor der Verleihung des Queer-Filmpreises Teddy und mit der beauftragten Untersuchung der „Alfred-Bauer-Affäre“.
Bestes Bären-Rezept: Arthouse-Kino mit politischer Brisanz
Schließlich gewann auch den Goldenen Bären ein Film, der im Wettbewerb politisch ein Zeichen setzte: „Es gibt kein Böses“ von Mohammad Rasoulof erzählt in vier Episoden von den moralischen Konflikten des Einzelnen im autoritären System des Iran. Es ist der dritte Goldene Bär für einen iranischen Film in den letzten zehn Jahren (die anderen beiden: „Taxi Teheran“ und „Nader und Simin“). Rasoulof musste die Zensurbehörde austricksen und hat derzeit Ausreiseverbot, weswegen seine Tochter den Preis entgegennahm. Noch vor der Preisverleihung sagte er im Tagesspiegel-Interview: „Auch meinen Kollegen und meinem Team hilft die Unterstützung aus dem Ausland. Ohne die Proteste säße ich jetzt vielleicht im Gefängnis.“
Größte Debatte: #MeToo von New York bis Berlin
Neue und aktualisierte #MeToo-Fälle bestimmten die Debatten rund ums Festival. Da lagen zwischen Filmpremiere und Breaking News nur wenige Tage: Eben noch sah man in Berlin Kitty Greens Spielfilm „The Assistant“ über einen Fall von Machtmissbrauch in der Filmbranche; kurz darauf wurde Harvey Weinstein vom Obersten Gericht in New York wegen Vergewaltigung und schwerer sexueller Nötigung schuldig gesprochen (ein weiterer Prozess in Los Angeles steht noch aus).
„The Assistant“ zeigt den Arbeitsalltag einer jungen Frau im Filmbusiness – und rechnet dabei auch mit einem gewissen Filmmogul ab
Zahlreiche prominente Frauen kommentierten das, von Cate Blanchett („nicht Rache, sondern Gerechtigkeit“) über Nina Hoss („geht in eine gute Richtung“) bis hin zu Hillary Clinton: „Es war Zeit für eine Abrechnung.“
Derweil konnte man zeitgleich in Paris sehen, wie ein in den USA wegen Vergewaltigung Angeklagter (Roman Polanski) erneut mit einem César, dem französischen Filmpreis, als bester Regisseur ausgezeichnet wurde. Polanski war 1978 aus den USA geflohen, bevor in dem Prozess wegen Vergewaltigung einer 13-Jährigen ein Urteil gesprochen werden konnte (der zuständige Richter hatte eine bis zu 50-jährige Haftstrafe angedeutet). Polanski hat die USA seitdem nicht mehr betreten und meidet Staaten, in denen er eine Auslieferung befürchten muss. Ende letzten Jahres wurde dann auch noch ein weiterer schwerer Vorwurf bekannt.
Schlimmster Aufreger: Daun’t watch it!
Einen #MeToo-Verdachtsfall stellt auch der Aufreger der Berlinale dar, das Großprojekt „DAU“. Der russische Regisseur Ilja Chrschanowski hatte in der Ukraine eine riesige Kunstinstallation im Stil der Sowjetunion bauen lassen, wo Hunderte Leute jahrelang lebten und arbeiteten – eine Art riesiges Menschenexperiment. Die „taz“ berichtete während des Festivals von Machtmissbrauch und übergriffigem Verhalten des Regisseurs bei einem ähnlich geplanten „DAU“-Ableger in Berlin.
Beim Festival wurden dennoch zwei Filme aus dem ukrainischen Projekt gezeigt: In „DAU. Natasha“ sieht man zum Beispiel, was sich zwischen den Laiendarstellern vermeintlich wirklich ereignet – echter Streit, echte Besäufnisse, echter Sex. In einer Szene erniedrigt ein KGB-Agent, der früher auch im echten Leben einer war, die Hauptdarstellerin und zwingt sie, sich eine Glasflasche vaginal einzuführen. Der Vorwand ist hier, mit vermeintlich „mutiger“ Filmkunst totalitäre Strukturen sichtbar zu machen; vor allem scheint es aber um den Thrill zu gehen, ob die filmische Gewalt, deren Dreh nach bisherigen Erkenntnissen höchst problematisch war, real oder Fake ist. Schlimmer als diesen Film zu zeigen war nur, ihn auszuzeichnen: Jürgen Jürges bekam einen Silbernen Bären für die Kameraarbeit.
Für einen Schwangerschaftsabbruch nach New York: Politisch trifft Eliza Hittmans Film „Never Rarely Sometimes Always“ einen Nerv
Sportlichste Kehrtwende: Jeremy Irons
Jury-Präsident Jeremy Irons war im Vorfeld kritisiert worden, unter anderem hatte er Schwangerschaftsabbrüche in Interviews als „Sünde“ bezeichnet. Zum Festivalstart klang das dann auf einmal anders: „Ich begrüße von ganzem Herzen das Recht auf Abtreibung.“ Wenn schon Kehrtwende, dann mit Servolenkung: Nun also wurde der Große Preis der Jury an den Film „Never Rarely Sometimes Always“ vergeben, dessen Grundhaltung unmissverständlich pro-choice ist.
Beste Aussicht: Preisträger können divers sein
Ein Anteil von 38 Prozent Regisseurinnen im Programm klingt mäßig, aber unter den prämierten Filmen gibt es Anzeichen für einen Paradigmenwechsel. Neben Eliza Hittman („Never Rarely Sometimes Always“, Kinostart: 11. Juni) erhielt im neuen Nebenwettbewerb „Encounters“ die Regisseurin Sandra Wollner den Großen Preis der Jury für ihre gruselige Science-Fiction-Groteske „The Trouble with Being Born“. Auch der Preis der Sektion Generation 14plus für „Meu nome é Bagdá“ ging an eine Frau, die Brasilianerin Caru Alves de Souza. Mit dem Preis für die beste Regie im Wettbewerb wurde Hong Sang-Soo geehrt, der in „The Woman Who Ran“ allerdings vier Darstellerinnen (und eine Katze!) ins Zentrum stellt. Der Teddy-Award für „Futur Drei“ (Kinostart: 28. Mai) ist ein großer Erfolg für den Debütfilm des queer-feministischen Kollektivs Jünglinge aus Hildesheim. Aber den wohl größten Applaus und den Publikumspreis für den besten Dokumentarfilm bekam „Welcome To Chechnya“: Der Film über russische Aktivisten, die in der Provinz Tschetschenien homosexuellen Menschen das Leben retten, erschien in diesem Jahr zugleich bedrückend und tröstlich.
Foto: Sebastian Wells/OSTKREUZ