fluter: Frau Görzig, welche Faktoren spielen eine Rolle, damit sich jemand einer Terrorgruppe anschließt?
Carolin Görzig: Früher dachte man, es liegt vielleicht an mangelnder Bildung oder an Armut – aber das wurde nach und nach entkräftet. Es gab und gibt in vielen reicheren Gegenden Terroristen. Auch viele Rechtsextreme kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Viel entscheidender ist der Kontext, in dem sich ein Mensch bewegt.
Sie meinen das persönliche Umfeld?
Ja, genau. Oft ist es eine Frage der Leute, die man kennt, und der Gruppen, in die man hineingerät. Diese Netzwerke sind entscheidend. Manchmal sind das Verwandte oder Freunde. Gerade Menschen, die ihr gewohntes Umfeld verlassen und alleine vor Herausforderungen stehen, sind anfällig für Gruppendruck. Das nutzen zum Beispiel radikale Islamisten.
Spielt das Alter eine Rolle?
Auch das ist entscheidend. Wenn man zwischen 20 und 30 oder noch jünger ist, will man sich ja oft von den Eltern abgrenzen. In diesem Alter ist Rebellion auch ganz normal. Bei der Gamaa Islamija …
Das ist eine radikale Islamistengruppe in Ägypten.
… haben die Anführer im Gefängnis im Rückblick gesagt: Wir waren damals jung und dumm. Es gibt auch Studien zur IRA, die für die Unabhängigkeit von Nordirland und die Einheit Irlands gekämpft hat. In diesen Studien wurde festgestellt, dass das Gespräch zwischen den Generationen, von Jung und Alt, den dortigen Friedensprozess befördert hat.
Sie sagen, dass das persönliche Umfeld eine Rolle spielt. Ist es dann Zufall, welcher politischen Richtung man sich anschließt?
Tatsächlich ist es oft auch Zufall. Wenn man sich Links- und Rechtsextremismus und dann noch den radikalen Islamismus anschaut, gibt es ja auch Ähnlichkeiten. Bei den Rechten ist etwa der Frieden unmännlich, „weibisch“, das ist bei den Islamisten ähnlich. Auch die Idee, dass der Einzelne in einem System – zumal einem kapitalistischen – austauschbar ist, findet man öfter. Terrorgruppen lernen auch von anderen Terrorgruppen. Die Idee von der „Propaganda der Tat“ etwa, also mit einer schockierenden Tat die Massen aufzuwecken, kommt ursprünglich von den linken Anarchisten im Russland des 19. Jahrhunderts und wird nun von Rechtsextremen wie dem Attentäter von Christchurch verwendet.
Sie haben mit Terroristen gesprochen, die den bewaffneten Kampf beendet haben. Was hat dazu geführt?
Obwohl Gefängnisse oft als Brutstätten für Radikalisierung fungieren, kann es gerade dort auch zur Deradikalisierung kommen. Wenn in Gefängnissen die Möglichkeit zum Austausch mit Andersdenkenden besteht und die Insassen Reflexions- und Selbstbildungsprozesse durchlaufen, kann paradoxerweise die „Isolation“ im Gefängnis mit einer Öffnung für neue Ideen einhergehen. Bei der IRA gab es im Gefängnis richtige Lesezirkel, die sich mit den Theorien von Mao, Che Guevara oder Karl Marx befasst und dann beschlossen haben, ihre Sichtweisen zu überdenken.
Das klingt zu schön. Bücher gegen Bomben …
Das ist natürlich nicht alles. Aber Gefängnisse sind manchmal tatsächlich Orte der Öffnung. Die IRA-Häftlinge wurden auch von Mitgliedern des südafrikanischen African National Congress (ANC) besucht, die ja lange im Untergrund waren und nun die Regierung stellen. Es gibt oft einen Schulterschluss von Organisationen, die sich weniger als Terroristen und vielmehr als Unterdrückte wahrnehmen. Gemeinsam sprachen Mitglieder der IRA und des ANC darüber, wie man einen friedlichen Weg einschlagen kann. Bei der Gamaa Islamija in Ägypten trafen die Anführer im Gefängnis Andersdenkende und mussten sich plötzlich mit Liberalen oder Atheisten austauschen. Die ägyptische Regierung hat diesen Dialog stark gefördert. Im Austausch mit Andersdenkenden sind die Radikalen schließlich zu der Einsicht gelangt, dass ihr Konstrukt nicht stimmig war.
„Es sei eine Sache, die Gefängniszelle zu verlassen, eine andere, aus dem mentalen Gefängnis auszubrechen“
Nicht jeder Täter ist zur Einsicht fähig. Bei der RAF kam es beispielsweise nie in größerem Umfang zum Nachdenken über den Terror, den man verbreitet hat. Was die Aufarbeitung der Attentate bis heute erschwert.
Dennoch gibt es das auch bei Linksextremisten, zum Beispiel bei den Roten Brigaden in Italien. Da haben ehemalige Mitglieder mit Opfern zusammengesessen und versucht, eine Art Aussöhnungsprozess zu initiieren. Der ist natürlich auch für die Täter eine extreme Herausforderung. Sie müssen sich ihren Taten stellen. Ein Mitglied der Roten Brigaden brachte es auf den Punkt: Es sei eine Sache, die Gefängniszelle zu verlassen, eine andere, aus dem mentalen Gefängnis auszubrechen.
Warum gelingt es einigen und anderen nicht?
Nicht alle haben die Möglichkeit. Ein ehemaliges Mitglied der Roten Brigaden hat gesagt, dass sie der Kampf zu einem Objekt gemacht habe und ihr im Grunde alle Freiheiten genommen habe, auch die zur Reflexion. Sie war nur noch in der Funktion der Kämpferin existent und nicht mehr als eigenständig denkendes Wesen.
Soll man eigentlich mit Terroristen verhandeln, um Frieden zu erreichen?
Staaten, die die Verhandlungsoption in Betracht ziehen, haben mehr Spielraum im Umgang mit Terrororganisationen. Die Nichtverhandlungsdoktrin besagt ja, man solle nicht reden, keine Zugeständnisse machen. Der ehemalige US-Außenminister und Sicherheitsberater Henry Kissinger hat diese vertreten. Er ging davon aus, dass man vielleicht das Leben von ein paar Menschen rettet, wenn man verhandelt, aber das Leben vieler anderer riskiert, weil Nachahmer denken könnten, dass sich Terrorismus lohnt.
Klingt plausibel.
Durch solche Sichtweisen wird die Verhandlungsoption kategorisch ausgeschlossen. Dabei können Staaten durch Verhandlungen durchaus an Einflussspielraum gewinnen. Ich habe die Nichtverhandlungsdoktrin in meiner Doktorarbeit untersucht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es so einfach, wie die Hypothese vom Dominoeffekt suggeriert, nicht ist. Die Reaktionen von Terrorgruppen sind viel komplexer. So wird eben oft nicht nur Gewalt kopiert, sondern auch die Abkehr von Gewalt. Es könnte also auch zu einem Dominoeffekt von Deradikalisierung kommen, wie es zum Beispiel mit dem „Ägyptischen Islamischen Dschihad“ der Fall war. Diese Gruppe hat sich gemäßigt, nachdem die Gamaa Islamija ihre Friedensinitiative verkündet hatte.
„Ohne Druck nehmen Terroristen nicht den Weg nach draußen, aber ohne einen Weg nach draußen funktioniert der Druck nicht“
In Deutschland wollte man mit der RAF nicht verhandeln. Stattdessen setzte der Staat auf Unnachgiebigkeit und neue Gesetze. Dennoch hielt der RAF-Terror das Land fast drei Jahrzehnte in Atem – und bis heute gibt es unter den ehemaligen Mitgliedern der RAF ein Schweigegelübde. Hat diese Haltung das Problem RAF verschärft?
Je mehr eine Gruppe in den Untergrund getrieben wird, desto radikaler wird sie. Der Schriftsteller Heinrich Böll hat im Fall der RAF von einem „Krieg von sechs gegen 60 Millionen“ gesprochen. Ein ehemaliges Mitglied der IRA grenzte sich in einem Interview auch genau mit diesem Argument von der RAF ab und sagte: „Wir haben echtes Gewicht, wir sind eine Stimme für viele, nicht wie die RAF.“ Das heißt, die RAF hatte nicht die gleiche Unterstützung in der Bevölkerung. Man kann sagen, dass Gruppen, die mehr Menschen repräsentieren, mehr Öffentlichkeit und mehr Politik bewegen, sich auch dieser Verantwortung stellen müssen. Verantwortung wirkt oft mäßigend.
Die IRA war traditionell mit der irischen und nordirischen Partei Sinn Féin verbunden, die lange als ihr politischer Arm galt. Auch die Hamas ist nicht nur eine Terrorgruppe, sondern auch eine politische Partei. Kann dieser Schritt in die Legalität dazu beitragen, dass sich Terroristen mäßigen?
Ja, denn wenn man den Akteuren den politischen Weg verwehrt, belohnt man die Radikalen und bestraft die Moderaten. Mediatoren, die mit Terroristen verhandeln, sagen sehr oft: Ohne Druck nehmen Terroristen nicht den Weg nach draußen, aber ohne einen Weg nach draußen funktioniert der Druck nicht.
Dr. Carolin Görzig leitet am Max-Planck- Institut für ethnologische Forschung die Forschungsgruppe „Wie ‚Terroristen‘ lernen“.