Das Heft – Nr. 82

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Editorial

zum fluter-Heft Social Media

Wie sozial sind Soziale Medien? Sie sind jedenfalls überall und aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Milliarden Menschen aller Generationen und sozialer Schichten nutzen sie. Offenbar treffen sie einen Nerv. Sie bieten einfache und auch völlig neue Möglichkeiten, miteinander zu diskutieren, sich in Echtzeit auszudrücken, zu organisieren, zu informieren und zu unterhalten. Gerade in Krisen und in Zeiten des Kriegs, wie jetzt in der Ukraine, erfüllen sie wichtige Dienste. 

Bei näherer Betrachtung und angesichts der nun seit Jahren damit gemachten Erfahrungen bleibt der Befund aber widersprüchlich. Es gibt mindestens zwei asoziale Dimensionen im jetzigen Regime der Sozialen Medien: Sie sind sozial vor allem für die Betreiber und ihre Eigentümer. Der in Deutschland geltende Verfassungsgrundsatz der „informationellen Selbstbestimmung“ wird für Nutzer und Nutzerinnen de facto außer Kraft gesetzt: In den Vereinbarungen, die wir „freiwillig“ mit den Plattformen durch ein paar lästige Klicks schließen, verzichten wir meist, ohne näher hinzusehen, auf vieles, was uns an Rechten zustünde. Wir machen uns zu Produkten, überlassen Daten als Waren für die weitere Verwertung. Es findet dabei letztlich eine massenhafte Enteignung, Überwachung und Entrechtung statt. Auch nur zu erfahren, was mit unseren Daten geschieht, welche Rechte wir daran haben, bleibt schwierig und den allermeisten verborgen. Wir sind als User dieser monopolartigen Dienste fest in eine Kapitallogik eingebunden – getan wird dort, was den Betreibern Gewinn bringt. Und die Entscheidungen über diese weltweiten Infrastrukturen liegen letztlich in der Hand einiger weniger Eigentümer und ihrer Vertreter. 

Dazu kommt: Unsere vielfältigen sozialen Beziehungen werden durch die vorherrschenden Sozialen Medien verzerrt abgebildet. Was wird hier eigentlich durch die Algorithmen als sozial definiert und bevorzugt? Weil es Aufmerksamkeit bindet und so das Geschäftsmodell stützt, werden Starkult und überzogene Ideale der Selbstdarstellung mitsamt dem entwürdigenden und krank machenden Konkurrenzdruck befeuert, werden Aufregungen bis hin zu offenem Hass und organisierter Gewalt einfach gemacht und im Umlauf gehalten.

Was fehlt? Was würden wir anders erfahren wollen? Wie wäre es zum Beispiel damit: unbeobachtete Momente erleben können, in Ruhe miteinander schweigen, sich ungestört Trost spenden, gemeinsam Gelassenheit, Achtung und Selbstgewissheit finden. In Echtzeit wissen und selbst entscheiden, welche Daten wir an wen weitergeben und wofür. 

Die vorherrschenden Ausblendungen und Widersprüche zeigen, dass da noch Entscheidendes fehlt. Unsere offenen Fragen geben Hinweise, wie es anders werden und weitergehen könnte. Diese Plattformen sind ja kein Schicksal, sie gehören zu Verhältnissen, die verändert werden können.

Das Geschäft mit unseren sozialen Beziehungen und Daten ist auch in Deutschland bisher wenig wirksam reguliert, angesichts ihrer weltweiten Macht steht die politische Einhegung der Konzerne noch am Anfang. Ohne öffentliche Debatten, organisierten Druck und unsere eigene massenhafte Beteiligung daran wird die Politik hier eher schwach bleiben.

Letztlich geht es dabei um die Frage, was wir unter gutem Leben verstehen wollen. Wie wollen wir es uns erkämpfen, und wie werden wir unser Miteinander digital neu gestalten? Wie sähen denn wirklich soziale Soziale Medien aus? Wem gehörten sie, welchen Werten wären sie verpflichtet?

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.