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„Es geht darum, Empathie herzustellen“

Vom DJ- zum Podcast-Duo: Gizem Adiyaman und Lucia Luciano drehen in „Realitäter*innen“ leise Stimmen lauter

Podcast Realitäter*innen

Vor drei Jahren haben Gizem Adiyaman (links) und Lucia Luciano (rechts) angefangen, Hip-Hop-Partys in Berlin zu veranstalten. Schnell etablierten sie sich unter dem Namen Hoe_mies als feste Größe und deutschlandweit. Ihr Rezept? Sie sorgen dafür, dass alle Menschen willkommen sind und sich auch so fühlen: Die Hoe_mies haben klare Richtlinien gegen Queer- und Trans*Feindlichkeit, Ansprechpersonen, an die man sich wenden kann, wenn man sich bedrängt oder unsicher fühlt, und Rampen für Rollstuhlfahrer. Diese Prämisse setzt sich auch in ihrem neuen Podcast „Realitäter*innen“ fort.

fluter.de: Seit Februar hostet ihr euren Podcast. Gibt es nicht genug Laberpodcasts?

Lucia: Ja, aber wir machen auch keinen Podcast über Themen, mit denen man sich easy-peasy mal auseinandersetzt – so wie bei „Laberpodcasts“, wo man einfach über irgendwas redet. Außerdem stellen wir uns selbst nicht in den Vordergrund und lassen Leute aus ihrer Perspektive erzählen.

Gizem: Wir beschäftigen uns weitgehend mit gesellschaftlichen Themen, meistens aber aus einer Perspektive, die im Mainstream weniger vorkommt.

Von Hip-Hop-Partys zum gesellschaftlich-politischen Podcast. Wie kommt’s?

G: Ich komme aus der politischen Bildungsarbeit, habe Politikwissenschaft studiert und mich eh viel mit diesen Themen beschäftigt. Lucia kommt zwar eher aus dem kreativen Bereich, Tanz und Kunst …

L: … aber ich interessiere mich für strukturelle Ungleichheiten. Ich schnappe viel auf und komme schnell mit Leuten ins Gespräch. Kürzlich erzählte mir zum Beispiel jemand von Seattle, wo die Obdachlosigkeit hoch sei, weil Amazon alles aufgekauft habe. Solchen Storys gehe ich dann gerne auf den Grund.

„Man hört zum Beispiel, jemand ist polyamorös, und fragt: ,Wie sieht das aus?’“

G: Gespräche dieser Art hatten wir durch unsere Partys mit ganz unterschiedlichen Menschen. Das gibt einem Impulse, sodass man mehr erfahren möchte. So ist die Idee entstanden.

L: Man hört zum Beispiel, jemand ist polyamorös, und fragt: „Wie sieht das aus?“ Die Idee, einen Podcast zu machen, war schon da, und genau zur richtigen Zeit kam Spotify auf uns zu.

Es geht euch darum, „marginalisierten Identitäten“ eine Plattform zu geben, also gesellschaftlich an den Rand gedrängten Gruppen. Dazu ladet ihr in jeder Folge zwei Gäste ein. Was wollt ihr damit erreichen?

L: Zunächst wollen wir möglichst zugänglich sein und geben daher unser Bestes, die Show so niedrigschwellig wie möglich zu machen. Erst gestern fragte eine Person, was „marginalisiert“ eigentlich bedeutet. Das war ein guter Reminder: Wir schmeißen mit solchen Wörtern manchmal zu selbstverständlich um uns. Im Grunde geht es darum, für verschiedene Lebensrealitäten zu sensibilisieren – und zu sehen, dass Randgruppen keine homogene Masse bilden.

G: Angehörige einer Randgruppe werden von der Mehrheitsgesellschaft schnell zu einem Block gemacht, obwohl man auch untereinander ganz unterschiedliche Haltungen vertritt. Mit nur zwei Gästen können wir natürlich nicht repräsentativ sein, weil sie nicht für eine ganze Gruppe sprechen können. Es sind individuelle Perspektiven, aber vielleicht nehmen unsere Gäste unseren Zuhörern die Berührungsängste zu bestimmten Themen und Gruppen.

Nach welchen Kriterien sucht ihr Gäste aus?

G: Wir schauen zuerst in unserem Umfeld: Wen kennen wir, der sich zu diesem oder jenem Thema äußern möchte? Und wer hat eine andere Perspektive und einen empowernden Spin?

„Wir wollen mit unserem Podcast das Gefühl herstellen, dass wir eigentlich alle im selben Boot sitzen“

Was ist ein „empowernder Spin“?

G: Es ist ein Anspruch, den ich zumindest habe: selbst bei schwierigen Themen nach einem Lichtblick zu schauen, damit wir Zuhörer*innen was mit auf den Weg geben können, wie sie als Einzelne ihr Handeln reflektieren und verbessern können. Das war uns zum Beispiel bei der Sexarbeiter*innen-Folge wichtig.

Zu der Folge habt ihr Sara, ein Erotikmodel, und Noa, eine Person, die gerne und selbstbestimmt mit Sexarbeit Geld verdient, eingeladen.

L: Wir wollten kein Gespräch, das Sexarbeiter*innen nur in einer Opferrolle zeigt. Uns war wichtig: Es gibt Leute, die entscheiden sich für diesen Weg, und deswegen sollten wir sie nicht ausgrenzen oder stigmatisieren.

G: Sexarbeiter*innen werden ja sogar in feministischen Bewegungen ausgegrenzt. Da gibt es die sogenannten SWERFs (Sex Worker Exclusionary Radical Feminists), die der Ansicht sind: Wenn du Sexarbeiterin bist, dann kannst du nicht feministisch sein.

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Anders als die beiden Gäste verrichtet die große Mehrheit der Frauen Sexarbeit weniger freiwillig und unter prekären Bedingungen. Wäre diese Perspektive nicht wichtiger gewesen?

G: Diesem Narrativ wird schon andernorts viel Raum gegeben. Ich glaube, wenn es diese Perspektive schon zuhauf gibt, ist es umso wichtiger, dass man andere Sichtweisen abbildet.

In eurem Podcast geht es oft um Identitätsfragen. Ihr fragt: Ist die Männlichkeit in der Krise? Denkt der Feminismus auch Trans*Frauen mit? Wenn es euch um „marginalisierte Perspektiven“ geht, sollten dann nicht auch Menschen, die kein Geld haben, eine größere Rolle spielen?

L: Ja, wir wollen mit noch mehr Leuten reden, die diese Erfahrung machen.

G: Deswegen planen wir eine Folge zu Obdachlosigkeit und wollen mit Menschen reden, die das selbst durchlebt haben.

L: An dem Thema erkennt man übrigens gut, worum es uns geht. Ich glaube, viele ertappen sich selbst dabei, dass sie über Obdachlose denken: „Wie kann man so enden!“ Es geht darum, ein bisschen Empathie herzustellen. Wir leben in einer Zeit, in der alle auf sich selbst fokussiert sind. Jeder will was ganz Besonderes sein und was ganz Besonderes machen. Wir wollen das Gefühl herstellen, dass wir eigentlich alle im selben Boot sitzen. Am Ende sind wir alle Menschen, die irgendwie miteinander verbunden sind.

Der Podcast „Realitäter*innen“ ist seit Februar auf Spotify zu hören

Titelbild: Marlen Stahlhuth

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.