Jahrelang war Åsne Seierstad als Kriegsreporterin unterwegs, unter anderem in Serbien, Kosovo, dem Irak und Afghanistan. Ihre Heimat Norwegen empfand sie in dieser Zeit als einen sehr friedlichen Ort, weit entfernt vom Schrecken der Kriege. Das änderte sich schlagartig, als am 22. Juli 2011 in der Hauptstadt Oslo eine Autobombe explodierte und acht Menschen tötete. Der Täter Anders Breivik fuhr anschließend zur Insel Utøya, wo die sozialdemokratische Arbeiterpartei Norwegens gerade ein Sommerlager für ihre Jugendorganisation veranstaltete. Anderthalb Stunden lief er schwer bewaffnet über die Insel und richtete 69 Menschen hin. In einem 1.500-seitigen Manifest begründete Breivik seinen Anschlag mit einer kruden Mischung aus rassistischen, antimuslimischen und frauenfeindlichen Behauptungen.
Dieses Attentat machte Seierstad zur Kriegsreporterin im eigenen Land. Während ihrer Recherche stellte sich heraus, dass Breivik im selben gutbürgerlichen Viertel in Oslo wohnte wie sie selbst. Der Massenmörder kam aus der Mitte der Gesellschaft. „Einer von uns“ nannte Seierstad ihr Buch, an dem Breivik gern mitschreiben wollte, was die Journalistin aber ablehnte. Ein Jahr nach seiner Tat wurde Breivik, der im Gerichtssaal öfter den Hitlergruß zeigte, zu einer 21-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt – mit anschließender Sicherheitsverwahrung.
fluter: Frau Seierstad, seit Breiviks Anschlag gibt es immer mehr Attacken von rechtsradikalen Terroristen …
Åsne Seierstad: Gerade habe ich im Radio einen Bericht über den Prozess gegen einen Neonazi gehört, der im vergangenen Jahr vorhatte, in einer Moschee bei Oslo Muslime zu erschießen. Die Gläubigen konnten ihn stoppen, aber vorher hatte er bereits seine Stiefschwester erschossen. Das hat mich stark an Anders Breivik erinnert. Wenn der Mann erfolgreich gewesen wäre, hätte es ein ähnliches Massaker geben können. Im Gerichtssaal hat sich der Täter später auf das Manifest von Breivik berufen.
Am fünften Jahrestag von Breiviks Tat erschoss ein 18-Jähriger in München neun Menschen mit Migrationshintergrund. Auch der Attentäter von Christchurch, der im März vergangenen Jahres 51 Menschen in einer neuseeländischen Moschee tötete, postete Bilder des Norwegers. Ist Breivik das globale Vorbild einer neuen Terroristengeneration?
Es gab auch schon vorher ideologisch ähnliche Terroranschläge – wie den eines Rechtsextremisten auf ein Regierungsgebäude in Oklahoma City 1995 mit 168 Toten. Dennoch war Breivik tatsächlich eine Zäsur. Er steht für den Beginn einer Radikalisierung durch das Internet, durch das sein Manifest geistert. Für die jungen Männer, die sich vor den Bildschirmen radikalisieren, ist er der Godfather, der Pate.
„Breivik fühlte sich als Soldat, der für seine politischen und militärischen Ziele tötet“
Gibt es besondere persönliche Merkmale, die einen Menschen zum Terroristen werden lassen?
Es gibt immer eine ganze Menge Gründe, warum so etwas geschieht. Oft sind psychische Probleme im Spiel, aber auch der soziale Hintergrund scheint mitentscheidend zu sein. In den Lebensläufen von Gewalttätern wie Mördern oder Vergewaltigern findet sich selten eine glückliche Kindheit. Meist ist die Erziehung gescheitert, oder es gab einen häufigen Wechsel von Schulen oder Heimen – oder eine schwere Jugend mit nur einem Elternteil. Natürlich macht keiner dieser Umstände aus Menschen automatisch Terroristen, aber wenn man die Leben von Terroristen betrachtet, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sich solche Faktoren finden.
Breiviks Vater hat die Familie früh verlassen, und seine Mutter schrie ihn an, dass sie wünschte, er wäre nie geboren worden.
Anders Breivik hat eine narzisstische Störung. Er suchte immer eine Bühne und fand sie nicht. Mal wollte er bei Graffitikünstlern mitmachen, mal bei einer politischen Jugendorganisation. Immer wurde er zurückgewiesen. Er hatte keine Freunde, keine Freundin und war überzeugt, alle anderen seien daran schuld. Mit dieser Geschichte können sich manche identifizieren. Breiviks einziger „Erfolg“ war, dass er seinen Terrorplan in die Tat umsetzte. Das war eine Art Überkompensation und Rache. Die Rache des Gescheiterten.
Breivik bezeichnet sich selbst als Ritter, der die nordische Rasse retten muss. Klingt ziemlich verrückt.
Es wurde festgestellt, dass er nicht verrückt ist. Ein erstes Gutachten kam zu dem Schluss, dass er an einer schweren Psychose leidet und bei der Tat nicht zurechnungsfähig war. Ein zweites hat das widerlegt. Ich würde sagen, Anders Breivik ist politisch verrückt und auch soziopathisch, aber nicht verrückt im medizinischen Sinne. Es war für die Opfer sehr wichtig, dass Breivik nicht als psychisch Kranker verurteilt wurde, sondern als Verantwortlicher für seine Taten.
Terroristen sprechen oft über Moral und behaupten, ihren Kampf für eine gerechte Sache zu führen. Andererseits bringen sie unschuldige Menschen um. Wie kann man diese beiden Welten vereinen?
Das ist einfach. Diese Menschen glauben, sich im Krieg zu befinden, und im Krieg darf man töten. Das Beste ist: Sie müssen sich nicht mal gegenüber einem Kommandanten rechtfertigen. Der Befehlshaber sind sie selbst, und ihre Armee finden sie im Internet. Sie sind die Retter der Gesellschaft, für die eigene Regeln gelten.
Der Soldat mit dem Körper aus Stahl, der aus einer verletzten Seele hervorgeht.
Genau. Breivik fühlte sich als Soldat, der für seine politischen und militärischen Ziele tötet.
Am Ende seines Manifests fanden sich zehn Seiten mit Bildern, die ihn als Soldaten zeigten und später in den Medien auftauchten. Breivik selbst bezeichnete die Bilder als „Werbematerial“ für eines der „einflussreichsten Individuen dieser Zeit“. Haben Medien eine Mitschuld, wenn sie diese Bilder zeigen und damit helfen, dass sich Terroristen als Helden inszenieren?
Weil es keine Bilder von Breivik gab, zeigte man nach dem Attentat die, die man bei ihm gefunden hatte. Das war ein Fehler. Medien sollten niemals die Bilder von Terroristen verwenden. Schwierig finde ich es, wenn Medien vermeiden, Namen zu nennen, Bilder zu zeigen oder auch aus dem Manifest zu zitieren. Wir leben in einer Demokratie, und zu der gehört auch eine freie Berichterstattung über Terroranschläge, die nichts im Dunkeln lässt. Alles andere führt in rechten Kreisen nur zu den üblichen Fake-News-Vorwürfen.
„Der Staat hatte nach dem Attentat die Aufgabe, den Norwegern zu sagen, wer sie sind und wofür sie stehen – und das war nicht Krieg, Hass und Rache“
Aber animiert man damit nicht Nachahmer?
Die Nachahmer lassen sich nicht von den Mainstreammedien inspirieren, sondern von anderen Plattformen wie den Imageboards 4chan und 8kun. Diese Online-Communitys haben ihre ganz eigenen Standards und Hierarchien, in denen Breivik ganz oben steht, weil er ein erfolgreicher Terrorist ist. „Going full Breivik“ bedeutet dort: eine Menge Menschen zu töten.
Wie ist die norwegische Gesellschaft mit dem Attentat umgegangen?
Man muss die Behörden dafür loben, wie sie nach dem Anschlag agiert haben. Die Ermittlungen waren transparent und zielführend. Schon neun Monate später kam es zum Prozess. Man konnte die Zeugenaussagen täglich in der Zeitung lesen, und obwohl sich Breivik darum bemühte, bekam er nie eine Bühne. Das alles war sehr wichtig für die Opfer und die Angehörigen.
Der damalige norwegische Ministerpräsident hatte direkt nach dem Anschlag angekündigt, dass die Antwort der Gesellschaft mehr Toleranz sein wird und mehr Menschlichkeit. War das dann auch so?
Jens Stoltenberg hatte damals die schwere Aufgabe, den Norwegerinnen und Norwegern zu sagen, wer sie sind und wofür sie stehen. Und das war nicht Krieg, Hass und Rache, sondern der Wille, genau das aus der Gesellschaft zu verbannen. Wenn man sich den Anschlag auf das World Trade Center in New York anschaut, dann war die Antwort der US-Regierung Rache und Krieg, was wiederum mehr Terror hervorgebracht hat.
Aber 9/11 war ja auch ein Anschlag von außen …
Das stimmt, in Norwegen war es stattdessen einer von uns. Dennoch glaube ich, dass Rache und Krieg nie die Antwort sein sollten. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie wir uns gegen Terrorismus verteidigen können, egal, ob er von rechts kommt oder von Islamisten. Wir leben in offenen Gesellschaften und wollen uns nicht hinter Zäunen verstecken. Wir müssen andere Wege gehen.
„Alle haben auf Breiviks antimuslimischen Motive geschaut. Dabei wurde sein Frauenhass völlig unterschätzt“
Wie sehen die aus?
Unsere einzige Chance ist es, gute Gesellschaften zu sein – für alle. Das bedeutet vor allem Politik für junge Menschen, Bildungs- und Freizeitangebote für Kinder. Reiche Länder müssen sich das leisten. Früher kostete die Schülerbetreuung bei uns 200 bis 300 Euro, nun ist sie in Oslo umsonst. Als ich unter jungen Dschihadisten recherchierte, habe ich festgestellt, dass sie von ihren Eltern nicht zum Fußball geschickt wurden, weil es zu teuer war. Man muss sich für diese Kinder engagieren. Das sind keine Antiterrorkampagnen, sondern Kampagnen für Gleichheit und Integration. Es gibt auch Programme wie den Besuch im Holocaustcenter, bei denen man sich mit Ideologien auseinandersetzt.
Aber wie erreicht man diejenigen, die in ihrem Zimmer vor dem Bildschirm sitzen und sich dort radikalisieren?
Ich habe auch keine Lösung, aber immerhin wissen wir, wo sich die Radikalisierung abspielt. Diese Communitys von Neonazis, Incels und Verschwörungstheoretikern müssen wir viel besser überwachen. Und wir müssen aufpassen, dass wir die Motive der Terroristen erkennen und benennen. Der Frauenhass von Anders Breivik wurde zum Beispiel völlig unterschätzt. Wir haben alle zu sehr auf die antimuslimischen Motive geschaut, aber der Hass auf Frauen ist genauso groß. Das sieht man auch an den Amokläufen in den USA. Die meisten davon wurden von sogenannten Incels begangen. Sie können nicht ertragen, dass Frauen erfolgreicher sind, während sie als Männer am Leben scheitern.
Åsne Seierstads Buch über Breivik heißt „Einer von uns“ (Verlag Kein & Aber). Es ist schwer erträglich, weil Seierstad jeden Mord einzeln schildert. Aber gerade dadurch gibt sie jedem Opfer ein Gesicht. 2017 schrieb Seierstad ein zweites Buch über Terrorismus: die Geschichte der 16 und 19 Jahre alten somalischstämmigen Schwestern Ayan und Leila, die sich plötzlich dem sogenannten Islamischen Staat anschließen.(Foto: Kagge Sturlason)
Fotos: Andrea Gjestvang/Panos Pictures/VISUM