Warum wurde der Mindestlohn eingeführt?
Seit dem 1. Januar 2015 gilt in Deutschland ein Mindestlohn. Bis Ende 2016 liegt er bei 8,50 Euro pro Stunde, ab 2017 bei 8,84 Euro pro Stunde. Die aktuelle Bundesregierung hat diesen Mindestlohn eingeführt, weil das freie Aushandeln von Löhnen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nach Auffassung vieler Beobachter nicht mehr überall funktioniert: Friseurgesellinnen mit einem Stundenlohn von knapp vier Euro, Hotel- oder Restaurantangestellte, die pro Stunde sechs Euro verdienen, Praktikanten, die – nach einer Phase der Einarbeitung – in einer Firma ein Dreivierteljahr lang bestimmte Tätigkeiten regelmäßig erledigen, die ansonsten ein Festangestellter erledigen müsste, und dafür pauschal 400 Euro pro Monat erhalten.
Von Fällen dieser Art hatten Medien seit den Nullerjahren immer wieder berichtet. Immer öfter wurden (und werden) Löhne gezahlt, die nicht auf einem Tarif beruhen, also nicht von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen ausgehandelt worden sind.
Ein Minijob ist eine kurzfristige Beschäftigung, bei der Arbeitnehmer von vornherein nicht mehr als drei Monate oder nicht mehr als 70 Tage im Jahr arbeiten. Minijob nennt man auch eine geringfügig entlohnte Beschäftigung, bei der Arbeitnehmer durchschnittlich nicht mehr als 450 Euro im Monat verdienen dürfen. Der Verdienst ist für die Arbeitnehmer steuer- und abgabenfrei. Minijobber sind grundsätzlich versicherungsfrei – bis auf die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, von denen sie sich jedoch auf Antrag befreien lassen können. Die Arbeitgeber dagegen müssen bei letztgenanntem Minijob pauschale Beiträge an die Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung zahlen. Für die kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse gelten wieder andere Regeln.
Die Große Koalition begründete den Mindestlohn damit, dass Arbeit „existenzsichernd“ sein müsse. Das bedeutet: Wer in Vollzeit arbeitet, soll damit so viel verdienen, dass er nicht zusätzlich auf staatliche Leistungen angewiesen ist, um Miete, Essen, Kleidung und andere Dinge des täglichen Bedarfs zu bezahlen. Genau das war aber in Deutschland oft nicht mehr der Fall. 1,3 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland erhielten 2013 zusätzlich Geld vom Staat, weil ihr Einkommen nicht ausreichte. Bereits 2010 hatte das Statistische Bundesamt festgehalten, dass es immer mehr Menschen gab, die erwerbstätig waren, aber dennoch armutsgefährdet. Gut jeder Fünfte arbeitete in Deutschland unterhalb der Niedriglohngrenze, vor allem im Taxigewerbe, in Friseur- oder Kosmetikstudios, als Gebäudereiniger oder eben im Hotel- und Gaststättengewerbe. Das Gros dieser Gruppe ging keiner klassischen Beschäftigung – in Vollzeit unbefristet und sozialversichert angestellt – mehr nach, sondern einer atypischen, flexiblen Beschäftigung: etwa als Zeitarbeiter, in Teilzeit oder als als sogenannte „Minijobber“.
Sind durch den Mindestlohn Arbeitsplätze verloren gegangen?
Als sich abzeichnete, dass ein Mindestlohn kommen würde, reagierten die Arbeitgebervertreter mit Warnungen. Der damalige Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Hundt, hatte vor einer Gefährdung von 1,2 Millionen Arbeitsplätzen gewarnt. Hundt hatte sich dabei auf Vorhersagen eines Wirtschaftsforschungsinstituts gestützt.
Man spricht von Zeitarbeit oder Arbeitnehmerüberlassung, wenn eine Firma Menschen anstellt, um sie für eine bestimmte Zeit gegen Geld an andere Firmen zu „verleihen“. Oft wird an diesem Modell kritisiert, dass Zeitarbeiter von den entsendenden Betrieben schlecht entlohnt, in Gastbetrieben als „Arbeiter zweiter Klasse“ angesehen würden und unsichere Perspektiven hätten: Wie lange wird man in der Firma gebraucht? Und wohin geht es danach?
Diese Annahmen haben sich aber bis heute, rund zwei Jahre nach Einführung des Mindestlohns, nicht bestätigt. Im August 2016 stellte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fest, die „weitreichenden Befürchtungen“ hätten sich nicht bewahrheitet. Das ist die Kurzfassung. Die Langfassung enthält – Achtung! – viele Zahlen: Den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit zufolge gab es 2015 im Vergleich zu 2014 trotz Einführung des Mindestlohns 436.000 sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte mehr. 103.000 Menschen, die vorher ausschließlich geringfügig entlohnt beschäftigt waren („Minijobber“ auf 450-Euro-Basis), hatten zu Beginn 2015 eine ausschließlich sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das waren doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Das IAB schreibt dazu in seinem Forschungsbericht 2016: „Dies bedeutet, dass eine ungewöhnlich hohe Zahl an Beschäftigten, die noch im Dezember 2014 geringfügig entlohnt wurden, im Januar 2015 auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gemeldet waren.“ Gleichzeitig wurden damals weniger als 4.000 Minijobber arbeitslos, obwohl 102.000 Minijobs mit der Einführung des Mindestlohns wegfielen.
Wie sehen die Arbeitgeber den Mindestlohn heute, zwei Jahre nach der Einführung?
Weiterhin kritisch. Die BDA mahnt, vor allem wegen der allgemein guten wirtschaftlichen Entwicklung führe der Mindestlohn bisher nicht zu mehr Arbeitslosigkeit. Dennoch bleibe der Mindestlohn „eine Belastung für den deutschen Arbeitsmarkt“. Für Arbeitgeber bedeute er großen bürokratischen Aufwand. Vor allem das tägliche Erfassen und lange Archivieren der Arbeitszeit sei ein Problem. Dazu kämen rechtliche Unsicherheiten für Unternehmer, beispielsweise bei der Beschäftigung von Praktikanten oder Langzeitarbeitslosen. Die Unternehmen müssen sich dazu rechtlich beraten lassen, was zusätzliche Kosten bedeutet
Und: Eine Umfrage bei Unternehmen Anfang 2016 ergab, dass viele von ihnen seit Einführung des Mindestlohns weniger Praktika anbieten. Und das, obwohl Praktika von vielen Firmen als wichtiges Rekrutierungsinstrument angesehen werden. Der Mindestlohn, so argumentiert der BDA, bringe für Studenten Nachteile. Trotz dieser Kritik stimmten im Sommer neben den Arbeitnehmervertretern auch die Arbeitgebervertreter zu, den Mindestlohn zum Januar 2017 auf 8,84 Euro zu erhöhen – in Anlehnung an die tariflichen Entgeltanpassungen in Deutschland.
Der Niedriglohn ist keine absolute Größe, sondern wird am mittleren Entgelt, auch Medianeinkommen genannt, gemessen: Würden sich alle Vollzeitbeschäftigten eines Landes ihrem Einkommen nach in einer Reihe aufstellen, stünde der Mensch mit dem Medianeinkommen genau in der Mitte. Die eine Hälfte der Beschäftigten bekommt weniger, die andere Hälfte mehr als das mittlere Entgelt. Wer mindestens ein Drittel weniger verdient als das Medianeinkommen, ist Niedriglöhner. Bei der letzten Verdienststrukturerhebung aus dem Jahr 2014, also vor Einführung des Mindestlohns, lag die Niedriglohnschwelle in Deutschland bei 10,00 Euro Bruttostundenlohn, also 1.993 Euro brutto im Monat.
Sind 8,84 Euro Mindestlohn genug?
Ulrike Mascher hält diesen Betrag noch für deutlich zu niedrig. Mascher ist Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, der sich unter anderem auch für Senioren und Behinderte einsetzt. Sie sagt: „Es ist längst bewiesen, dass der derzeitige Mindestlohn nicht ausreicht, um eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu bekommen.“ Der Vdk fordert, den Mindestlohn auf 11,60 Euro anzuheben. „Nur dann kann nach langjähriger Beitragszahlung auch eine Rente über dem Grundsicherungsniveau gewährleistet werden“, erklärt Mascher. Dass der aktuelle Mindestlohn nicht ausreicht, um vor Altersarmut zu schützen, davor warnt auch Professor Dr. Oliver Holtemöller, Wirtschaftswissenschaftler und stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erklärt dazu per E-Mail, dass Altersarmut zurzeit kein Massenphänomen sei. Wer hilfsbedürftig sei, werde von der Grundsicherung im Alter aufgefangen. Außerdem betont das Ministerium, dass die vom Lohn abhängige gesetzliche Rente nicht den einzigen Schutz vor Altersarmut bildet, und verweist auf die seit 2014 geltenden Neuerungen zur Verbesserung niedriger Renten, etwa die „Mütterrente“ oder die „Flexi-Rente“.
Wem hilft der Mindestlohn?
Viele Menschen mit niedrigem Einkommen verdienen seit der Einführung des Mindestlohns mehr Geld: Laut Statistischem Bundesamt werden vier Millionen Jobs seitdem besser bezahlt, bei unveränderten Arbeitszeiten stiegen die Verdienste im Durchschnitt um 18 Prozent. Claudia Falk, Mindestlohnexpertin beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), betont: „Etwa die Hälfte der früheren Minijobs wurde in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt. Insbesondere Beschäftigte im Osten, in Dienstleistungsberufen und Frauen profitieren vom Mindestlohn.“ In der Gastronomie in Ostdeutschland etwa habe es zweistellige Verdienstzuwächse in der Gruppe der Un- und Angelernten gegeben, so Falk. „Das zeigt aber auch, wie stark ausgeprägt das Lohndumping in manchen Regionen war.“
Wann ist es berechtigt, von Armut zu sprechen? In der EU gilt als von strenger Armut betroffen, wem weniger als 40 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens in seinem Land zur Verfügung steht. Armutsgefährdet ist, wer weniger als 60 Prozent dessen zum Leben hat. In Deutschland zum Beispiel lag der Schwellenwert der Armutsgefährdung 2015 für einen Single bei 1.033 Euro pro Monat, bei einer Familie mit zwei Kindern bei 2.170 Euro.
Verhindert der Mindestlohn wirksam Armut?
Nicht immer reicht der Mindestlohn, um ohne finanzielle Unterstützung vom Staat auszukommen. Der Wirtschaftswissenschaftler Holtemöller betont, dass vom Mindestlohn vor allem geringfügig Beschäftigte (Minijobber) und Teilzeitbeschäftigte betroffen seien. Diese Menschen könnten jedoch auch mit Mindestlohn nicht von ihrem Verdienst leben. Sie seien weiterhin oft auf Transferleistungen des Staates angewiesen. Für Holtemöller ist der Mindestlohn daher eine „verteilungspolitische Nebelkerze“. Er sei „kaum geeignet, Armut zu verringern“.
„Menschen sind in Deutschland vor allem aus drei Gründen arm“, erklärt Holtemöller, „wegen zu geringer Qualifikation und häufig auch fehlendem Schulabschluss, Krankheit oder fehlender Kinderbetreuung für Alleinerziehende, die deshalb nicht arbeiten gehen können.“ Diesen Personengruppen helfe der Mindestlohn nicht. Deshalb sei er auch nicht das richtige Mittel, um Armut zu bekämpfen.
Deshalb fordert Holtemöller von der Politik andere Maßnahmen, die an den Ursachen der Armut ansetzen, vor allem eine flexiblere Kinderbetreuung für Alleinerziehende sowie die frühe Förderung von Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen. „In Ostdeutschland verlässt jeder zehnte Jugendliche die Schule ohne Abschluss“, sagt Holtemöller. „Den jungen Leuten fehlen grundlegende Fähigkeiten, etwa im Bereich der Sprache.“ Beispiele seien Mängel bei Aussprache, Wortbildung und Grammatik – und das nicht nur bei Migranten. Auch die Gesundheit spiele eine Rolle, bei gesunder Ernährung und Drogenprävention ließen sich beispielsweise Verbesserungen erzielen. „Ein guter Schulabschluss ist die beste Armutsprävention und außerdem auch gesamtwirtschaftlich gut für die Gesellschaft“, sagt Holtemöller.
Titelbild: Jan Q. Maschinski