Man vergisst das erst mal nicht. Diese Beschreibung, welches Geräusch ein Kopf macht, wenn eine Kugel in ihn eindringt. Es höre sich an, so schreibt Åsne Seierstad, wie eine Art Ausatmen. Dieses Buch über den Massenmörder Anders Breivik ist im Grunde unerträglich. Besonders die Kapitel, die sehr ausführlich schildern, wie er über die Insel Utøya streift und die meist jugendlichen Teilnehmer eines Sommerlagers der norwegischen Arbeiterpartei hinrichtet. Wie er in aller Seelenruhe über die Körper hinweg steigt und vorsichtshalber noch einmal in die Köpfe schießt. Das Grauen nimmt kein Ende, es ist, als würde jeder einzelne Schuss beschrieben. Aber vielleicht, so denkt man irgendwann, ist dies die einzige Methode, jedem der 69 Opfer Respekt zu zollen. Indem sie eben nicht hinter dieser unglaublichen Zahl verschwinden, sondern ihre letzten Momente detailliert beschrieben werden.

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cms-image-000049328.jpg (Foto: ODD ANDERSEN / Staff)

Ausgerüstet mit einer Fantasie-Polizeiuniform, mehreren Gewehren und einer selbstgebastelten Bombe tötete Anders Breivik am 22. Juli 2011 77 Menschen

(Foto: ODD ANDERSEN / Staff)

Die Autorin Åsne Seierstad war früher fast ausschließlich in Konfliktregionen unterwegs, als Reporterin in Serbien, Libyen, im Irak oder in Afghanistan. Bis am 22. Juli 2011 ihr Heimatland Norwegen zum Krisengebiet wurde. Als nämlich ein 32-Jähriger, der sich eine Weltanschauung aus Herrenmenschenglauben und Islamophobie zusammengezimmert hatte, in den Krieg zog – mit einer Fantasie-Polizeiuniform, mehreren Gewehren und einer selbstgebauten Bombe. Mit der tötete er im Regierungsviertel von Oslo acht Menschen, bevor er unbehelligt zur Insel Utøya fuhr.

Seierstad hat für dieses Buch jahrelang recherchiert, sie studierte Ermittlungsakten, sprach mit Wegbegleitern und der Mutter des Mörders, mit Ermittlern, mit Angehörigen der Opfer. Mit Breivik sprach sie nicht, weil der selbst im Gefängnis nicht von seinem Wahn lassen kann, Norwegen von Ausländern und Linken retten zu müssen.

„Einer von uns“ ist auch deshalb so schaurig, weil Teile von Breiviks hasserfülltem Weltbild heute sehr verbreitet sind

Es tut dem Buch keinen Abbruch, weil man beim Lesen merkt, dass Seierstad ansonsten keinen Aktenvermerk ungelesen ließ, kein Gespräch ungeführt. Schon als Kind stand Breivik unter Beobachtung des Jugendamtes, Psychologen empfahlen eine Pflegefamilie für ihn, weil seine Mutter nach der Trennung von ihrem Mann mit der Erziehung überfordert war. Der Verlust des Vaters, die psychische Krankheit der Mutter, die ständige Zurückweisung durch Gleichaltrige – das alles führte offenbar bei Breivik zu einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, wie später in Gutachten festgestellt wurde. Immer wieder hatte er um Aufmerksamkeit gebuhlt, in der Grafitti-Szene, bei der rechtspopulistischen Fortschrittspartei, in Foren im Internet. Immer wieder blieb er der Loser. Die Jahre vor der Tat verbrachte Breivik größtenteils in völliger Isolation beim World-of-Warcraft-Spielen am Computer.


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cms-image-000049329.jpg (Foto: Kein & Aber Verlag)
(Foto: Kein & Aber Verlag)

Im Buch wird Breiviks Weg in die Verblendung das Leben einiger seiner Opfer gegenübergestellt – viele von ihnen engagierte Teenager, die eine friedlichere Welt mitgestalten wollten und voller Empathie waren, die dem Täter fehlte. „Einer von uns“ ist auch deshalb so schaurig, weil Teile von Breiviks hasserfülltem Weltbild heute sehr verbreitet sind: die Angst vor Überfremdung durch Flüchtlinge, der Glaube, eine eher linke Presse unterdrücke die Wahrheit, das Gefühl, dass manche Menschen mehr wert sind als andere und dass die Gesellschaft vor zu viel fremden Einflüssen geschützt werden müsse.

Seierstadt erzählt auch von den Pannen bei der Fahndung. Von der Unfähigkeit der Polizei, die den Mörder zwischen der Explosion der Bombe und seinem Übersetzen auf die Insel mehrmals hätte stoppen können, wenn frühe Hinweise beachtet worden wären. Man fasst es nicht, dass Breivik nach Dutzenden Morden auf der Insel selbst die Polizei anrief, um sich zu stellen, und die Beamten erst einmal umständlich nach seinem Namen fragten, ehe die Verbindung schließlich unterbrochen wurde. Anschließend brachte Breivik noch viele andere Menschen um.

Wie schon gesagt: Dieses Buch ist absolut schrecklich. Man muss es lesen.

Åsne Seierstad: „Einer von uns - Die Geschichte des Massenmörders Anders Breivik“. Aus dem Norwegischen und Englischen von Frank Zuber und Nora Pröfrock, Kein & Aber, Zürich 2016, 544 Seiten, 26 Euro.