In Chanteloup-les-Vignes gibt’s mächtig Ärger. Bei Ausschreitungen verletzt die Polizei einen Jugendlichen schwer. Während er auf der Intensivstation liegt, wacht die Polizei in voller Kampfmontur vorm Präsidium. Und was macht Saïd? Der schlendert an den Uniformierten vorbei, zückt hinter ihrem Rücken den Edding und taggt seinen Namen auf das gepanzerte Polizeiauto.

Selber Tag, etwas später: In dem leer stehenden Schulgebäude übt Vinz mit ein paar Jungs den Headspin, einen Breakdance-Move, bei dem man auf dem Kopf rotiert. Ein DJ startet mit einem Beatjuggling sein Set. Und als Hubert abends mit seinen Kumpels zu einem Boxkampf cruist, da dröhnen fette Beats aus den Boxen.

Der Film „La Haine“, auf Deutsch: Hass, von Mathieu Kassovitz hat das französische Kino 1995 ganz schön aufgemischt. Und nicht nur das Kino. Die Polizei protestierte, der damalige Front- National-Vorsitzende Jean-Marie Le Pen wollte die Macher gar ins Gefängnis stecken, und Alain Juppé, damals Premierminister, ließ das Werk in einer Sondervorführung seinen Kabinettsmitgliedern zeigen. „La Haine“ ist nicht nur der erste Film, mit dem die französische Öffentlichkeit das trostlose Leben in den Banlieues auf der großen Leinwand sah, es ist auch der erste Film, der die soziale Bedeutung des HipHop für die Jugendlichen der Vorstadt realistisch darstellt.

Mit Vorurteilen gegen Rapper kann man sich gut als durchgreifender Politiker profilieren

HipHop war immer schon eine Form der Selbstbehauptung. Das war bereits so, als in den 1970er-Jahren in der New Yorker Bronx die ersten improvisierten Partys stattfanden. Im HipHop melden sich die zu Wort, die sonst nicht gehört werden. Reimten die ersten Rapper noch „school“ auf „fool“ und „cool“, entwickelte sich der Sound in den 1980er-Jahren zu einem schwarzen Nachrichtenkanal, zu einer Art CNN, wie Public Enemy es formulierten. In Frankreich müsste man sagen: zum CNN der Banlieue.

Denn hier schlägt das Herz des französischen HipHop. Und das pocht laut und deutlich. Frankreich gilt als der zweitgrößte Markt für Hip- Hop nach den USA. Auch wegen der vielen Einwanderer aus Afrika und der Karibik fasste der Sound schnell Fuß. Mit seinen amerikanischen Vorbildern blieb der französische HipHop musikalisch immer im Dialog. Würde man die ersten erfolgreichen Rapper wie MC Solaar oder IAM eher der Ostküste mit ihrem sozialkritischen Rap zuordnen, sind Crews wie Suprême NTM von den grellen Gangsterballaden der Westcoast beeinflusst. In den letzten Jahren lehnen sich viele an den synthielastigen Dirty-South-Stil an.

Inhaltlich hat der französische HipHop die typischen Themen schnell erweitert. Zwar dominiert auch hier Lebensweltliches: Die Lyrics erzählen Geschichten von Arbeitslosigkeit und Gewalt, Zurückweisung und Chancenlosigkeit. Probleme wie Rassismus, Drogen und Kriminalität tauchen oft auf. Aber viele Rapper wagen auch den größeren Aufschlag. Sie erzählen die Geschichte ihrer (Groß-)Elterngeneration noch einmal neu. Da geht es um Kolonialismus, den Algerienkrieg, die wirtschaftliche Benachteiligung. War die Elterngeneration noch betont angepasst, um bloß nicht aufzufallen, wie der Rapper Médine erzählt, erhebt die zweite Generation des multikulturellen Frankreichs seine Stimme gegen die soziale Ungerechtigkeit.

Und die klingt zunehmend zornig. Nach den Unruhen von 1995 gab es sogar eine Verhaftung. Bruno Lopes und Didier Morville von Suprême NTM aus dem Pariser Vorort Saint-Denis wurden zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt. Der Vorwurf: Mit ihren Lyrics würden sie zur Gewalt aufrufen. Auch als 2005 wieder die Banlieues brannten, kam es zu Forderungen nach Zensur. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy machte sich dafür besonders stark und profilierte sich als Law-and-Order-Politiker. Zwei Jahre später wurde er Präsident.

Vieles von dem, was in „La Haine“ gezeigt wird, ist heute auch noch gültig. Das Gefühl des Abgehängtseins etwa. Doch manches hat sich auch verändert – dadurch, dass HipHop ein wichtiges Sprachrohr für Einwanderer geworden ist. Hubert, Vinz und Saïd, die Hauptfiguren im Film, sind ein Afrikaner, ein Weißer und ein Araber. Also genau die Black-Blanc-Beur-Mischung, mit der die französische Fußballnationalmannschaft 1998 im eigenen Land Weltmeister wurde.

Heute ist die Islamnähe mancher Hip- Hopper ein kontroverses Thema. „Immer wenn wir einen Terroristen sehen, sehen wir Bilder von ihm, wie er früher war, und natürlich ist er da beim Rappen“, beschwerte sich Akhenaton, der Rapper von IAM, einer seit zweieinhalb Jahrzehnten erfolgreichen HipHop-Band aus Marseille. Immerhin versuchte sich auch Chérif Kouachi als Rapper, bevor er mit seinem Bruder bis an die Zähne bewaffnet die Redaktion des Satireblatts „Charlie Hebdo“ stürmte und dort Menschen erschoss. Und sowieso wurde „Charlie Hebdo“ immer wieder von Rappern mit rüden Punchlines bedacht. Besonders die Entscheidung, die Mohammed- Karikaturen der dänischen Zeitung „Jyllands- Posten“ nachzudrucken und mit neuen – eigenen – nachzulegen, empfanden einige Rapper als unnötige Provokation.

Das CNN der Banlieues sendet nicht immer schöne Geschichten. Aber wichtig sind sie allemal. Wahrscheinlich mehr denn je. Das findet auch Mathieu Kassovitz. Der Regisseur von „La Haine“ arbeitet gerade an einem zweiten Teil des Films.