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„Ohne Frieden ergibt meine Existenz keinen Sinn“

Amir Sommer ist Schriftsteller und Poet, halb Palästinenser, halb Israeli. Im Interview erzählt er, warum er nach wie vor am Traum von einer Koexistenz beider Völker festhält

  • 7 Min.
AMIR SOMMER

fluter.de: Amir Sommer, wie geht es Ihnen in diesen schwierigen Zeiten?

Amir Sommer: Abgesehen vom schrecklichen Krieg eigentlich ganz gut. Ich bin nur etwas erschöpft, weil ich an vielen Projekten arbeite und Residencies (Anmerkung der Redaktion: Künstler:innenaufenthalte im Ausland) und Auftritte habe. Momentan bin ich zum Beispiel in Österreich im Burgenland, wo ich ein Stipendium erhalten habe, um an meinem Buch „Disco for Peace“ zu arbeiten.

Was für ein Buch soll es werden?

Es ist ein Roman, der Fiktion, Historisches und Prosa verbindet. Er folgt einer israelisch-palästinensischen Familiengeschichte, die auf meiner eigenen basiert, denn meine Mutter ist Israelin, mein Vater Palästinenser. Mit diesem nicht eindeutigen Genre können die Verleger manchmal schwer umgehen, das Buch ist eine Art Hybrid.

„Wenn es eine Sache gibt, die ich als Schriftsteller über den Konflikt gelernt habe: Beide Seiten haben Angst vor bestimmten Wörtern. Sie entziehen sich der Verantwortung für Gewalt und Kriegsverbrechen durch Semantik“

Wie Ihre eigene Biografie.

Ich versuche, in meiner Arbeit eindeutigen Zuordnungen zu trotzen und begriffliche Mauern einzureißen. Wenn es eine Sache gibt, die ich als Schriftsteller über den Konflikt gelernt habe, dann, dass beide Seiten Angst vor bestimmten Wörtern haben. Sie entziehen sich der Verantwortung für Gewalt und Kriegsverbrechen durch Semantik. Ich mache da nicht mit und lehne keinen Begriff kategorisch ab.

In Israel dürfen keine interreligiösen Ehen wie zum Beispiel zwischen Muslimen und Juden geschlossen werden. War es schwierig für Sie, unter diesem Stigma aufzuwachsen?

Obwohl beide Gesellschaften unsere gemischte Familie nicht vollständig akzeptiert haben, sind meine frühen Kindheitserinnerungen eigentlich sehr schön. Wir hatten Islam und Judentum unter einem Dach, haben das jüdische Fest Chanukka und das muslimische Zuckerfest gefeiert. Ende 2000, während des Aufstands der Palästinenser gegen die israelische Besatzung, als sich der Krieg verschärfte und meine Mutter einen Terroranschlag erleben musste, wollte sie alles „Arabische“ aus unserem Leben verbannen. Mein Vater war fortan immer weniger präsent, und irgendwann trennten sie sich.

Der Anfang Ihrer Identitätskrise?

Genau, als junger Erwachsener schwankte ich immer wieder von Extrem zu Extrem, mal überzeugter Zionist, mal stolzer, nationalistischer Palästinenser. Das scheint ein Ding zu sein unter Menschen wie mir, die beides, Israeli und Palästinenser, sind. Ich denke, man möchte um jeden Preis dazugehören, auch wenn es bedeutet, einen Teil seiner selbst aufzugeben. Es ist eine Art Überkompensation. Je mehr ich mir meiner eigenen Identität und Umgebung bewusst wurde, desto mehr spürte ich diese gefährliche Spannung in der Gesellschaft. Es gab da einen ziemlich bekannten Schauspieler, ebenfalls halb Israeli, halb Palästinenser, der in der Nachbarschaft meines Vaters lebte. Er hätte die Möglichkeit gehabt, in die Vereinigten Staaten oder nach Europa auszuwandern, entschied sich aber dagegen. Schlussendlich wurde er in Jenin im Westjordanland vor seinem Theater erschossen. Ich erinnerte mich daran und dachte mir: Du musst hier ganz wegziehen.

Also gingen Sie einige Jahre später nach Berlin.

Erst hier konnte ich beide Seiten in Einklang miteinander bringen. Ich glaube, das multikulturelle Umfeld hat dabei sehr geholfen. Mit der Eskalation des Konflikts seit dem 7. Oktober 2023 erkenne ich jedoch zunehmend dieselben Muster und die Lagerbildung aus meiner Heimat wieder. Irgendwie bin ich doch wieder an einem ganz ähnlichen Ort gelandet, nur tragen hier alle die meiste Zeit im Jahr Winterjacken.

„Direkt am 7. Oktober wurde ich mit Nachrichten überhäuft, jede Seite schickte mir Videos, machte mir Vorwürfe und drängte mich, etwas zu posten“

Was bedeutet es nun für Sie, Israeli und Palästinenser zu sein?

Momentan bedeutet es vor allem, dass ich sowohl Antisemitismus als auch Islamophobie abbekomme. Ich habe aufgehört, in der U-Bahn Bücher auf Hebräisch zu lesen. Gleichzeitig muss ich aufpassen, an welchen Orten ich meine Solidarität zu Palästina bekunden kann, um keine Probleme mit Behörden zu kriegen.

Social Media spielt in diesem Krieg eine große Rolle: Tausende Infografiken schwirren auf Instagram herum, Promis rufen zum Boykott auf, und es scheint einen Druck zu geben, sich zu positionieren. Sie selbst schreiben, dass Sie sich ganz heraushalten möchten. Warum?

Ich würde wieder in eine Identitätskrise stürzen. Direkt am 7. Oktober wurde ich mit Nachrichten überhäuft, jede Seite schickte mir Videos, machte mir Vorwürfe und drängte mich, etwas zu posten. Ich war frustriert, wurde wütend und dachte sogar kurz, ich müsse jetzt kämpfen gehen. Einen Tag wachte ich auf und verteidigte die israelische Seite, am nächsten Tag die palästinensische. Das Einzige, was mir dabei half, wieder zu einer Balance zurückzufinden, war, auf einer neutralen Position für gewaltfreie Lösungen zu beharren. Ich habe daraus gelernt, mich nicht dafür schuldig zu fühlen, wenn ich zuallererst an die eigene mentale Gesundheit denke. Ich bin nun mal ein Mensch und keine Flagge.

Wie bewerten Sie die Rolle der sozialen Medien im Nahostkonflikt?

Sie sind Fluch und Segen zugleich. Durch die sozialen Medien bekommt die Welt einen direkten Einblick in die Lage der Palästinenser. Jeder sieht die Gesichter der Menschen in Gaza, kann selbst erkennen, dass dort kleine Kinder sterben. Natürlich kann das auch für Desinformation missbraucht werden, die ebenso ein großes Problem darstellt. Aber dass diese Geschichten überhaupt an die Öffentlichkeit kommen, halte ich für einen immensen Zugewinn. Es ist ein Problem, wenn immer nur eine Seite kritisiert wird, trotzdem weiß ich, was für eine symbolische Kraft das gerade für junge Palästinenser hat, wenn sich Promis öffentlich solidarisieren.

„Ich stelle mir vor, dass ich eines Tages durch die Straßen Israel-Palästinas laufe und Denkmäler für Opfer beider Seiten finde, ohne dass dabei ein Narrativ dominiert“

Trotz dieser Lagerbildung sprechen Sie sich international auf Veranstaltungen weiterhin für Frieden und Koexistenz aus.

Ich habe eigentlich keine andere Wahl. Denn ohne Frieden ergibt meine Existenz, mein ganzes Leben keinen Sinn. Statt mein Volk nur als barbarisch, gewalttätig und tragisch in Erinnerung zu halten, würdige ich lieber die Schönheit und Resilienz beider Seiten. Ich denke lieber an Jugendliche in Tel Aviv, die trotz der Gefahr von Raketenangriffen am Strand abhängen, oder an palästinensische Kinder in Jenin oder Ramallah, die so viel Leid erfahren und trotzdem an ihren Träumen festhalten, mal Arzt oder Fußballspieler zu werden.

Wie stellen Sie sich diese friedliche Koexistenz vor?

Zuallererst müssen sich die Bedingungen der Palästinenser verbessern. Dazu muss die palästinensische Gesellschaft aber auch anerkennen, dass der weit verbreitete Antisemitismus nicht nur durch die Besatzung, sondern auch durch radikale religiöse Einstellung und falsche Erziehung entsteht. Weiterhin müssten die Menschen sich weniger davor fürchten, dass im Land eine gemischte Identität entsteht. Denn solange Israelis und Palästinenser nicht einmal heiraten können und ihre Beziehungen und Kinder stigmatisiert werden, kann man natürlich auch im Größeren keine Koexistenz pflegen. Frieden heißt nicht gleich vergeben und vergessen, ganz im Gegenteil: Ich stelle mir vor, dass ich eines Tages durch die Straßen Israel-Palästinas laufen kann und Denkmäler für Opfer beider Seiten finde, ohne dass dabei ein Narrativ dominiert.

Amir Sommer, 31, wuchs in Haifa auf und ist heute Dichter und Autor. Auf internationalen Veranstaltungen setzt er sich für Frieden und Dialog im Nahen Osten ein.

Titelbild: Mark Oblow

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.