1997. Der „Spiegel“ titelt: „Gefährlich fremd. Ausländer und Deutsche: Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“. Die rechtsextremen Terroranschläge von Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen und Lübeck, bei denen mehrere Menschen ermordet wurden, klingen noch nach. Und eines der größten Magazine des Landes zieht dieses Fazit: „Immer mehr Bürger fühlen sich im eigenen Land bedroht, mißbraucht und in die Defensive gedrängt.“
1997. „Mesaj“ heißt das erste Album von $lamic Force. Boe B, Maxim, Killa Hakan und Nellie sind eine Straßengang aus Berlin-Kreuzberg, sie rappen seit gut zehn Jahren. Ihre Eltern waren in den 1960er- und 1970er-Jahren als „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Deren Rockmusik hat ausgedient, stattdessen sampelt die kleine deutschtürkische Rap-Szene die alten türkischen Lieder, die zu Hause auf Musikkassetten liefen, um auf Englisch und Türkisch darauf zu rappen.
Wie viele Kinder und Enkel der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter fühlen sich $lamic Force weder türkisch noch deutsch. In der Türkei werden die Deutschtürkinnen und Deutschtürken als „Almancılar“ verspottet, in Deutschland werden sie rassistisch diskriminiert.
„Your Silence Will Not Protect You.“ Schon die Schwarze Feministin Audre Lorde wusste das. Und auch $lamic Force wollen nicht leiser werden, sondern lauter, sie wollen für sich und ihre Belange einstehen. Rap erweist sich dafür als geeignete Kunst.
Neben Berlin spielt das Ruhrgebiet eine Rolle. Die ersten Rap-Tracks in deutscher Sprache kommen aus Ratingen, wo türkisch-, marokkanisch-, mazedonisch- und deutschstämmige Jugendliche Ende der 1980er-Jahre die Fresh Familee gründen. Ihr Song „Ahmet Gündüz“ sammelt rassistische Alltagserfahrungen, ganz bewusst in gebrochenem Deutsch.
Mein Name ist Ahmet Gündüz, laß’ mich erzählen euch,
Du musse schon gut zuhören, ich kann nix sehr viel Deutsch,
Ich komm von die Türkei, zwei Jahre her,
Und ich viel gefreut, doch Leben hier ist schwer
Weitere Acts folgen: Aziza A., Sons of Gastarbeita oder M.O.R. (Masters of Rap), bei denen Kool Savas erste Parts veröffentlicht. Rap mit deutschen Texten schafft es in den 1990er-Jahren ins Radio und in die Charts. Wie viel türkeistämmige Jugendliche dazu beigetragen haben, wird gern unterschlagen.
1997. In Berlin kommt ein Junge zur Welt. Arda gehört zur dritten Generation: Seine Großeltern kamen zum Arbeiten nach Deutschland. Arda bekommt Möglichkeiten, die viele Türkeistämmige vor ihm nicht hatten: Er legt ein Einser-Abi hin, fängt ein Medizinstudium an. Mit 14 beginnt er, Texte zu schreiben. Und traut sich irgendwann auch, sie aufzunehmen. Aus Arda wird Apsilon. Die Musik produziert bis heute sein Bruder Arman.
Berlin-Schöneberg, eine weiße Doppelfassade. Der Meetingraum von Sony Music, einem der Big Player der Musikindustrie, ist gemütlich eingerichtet. Apsilon kommt mit einem Lächeln und einer Tasse Tee herein. Im Interview geht es aber direkt zur Sache. Kein Wunder: Er rappt über Rassismus, Weltschmerz, Zerrissenheit, Selbstzweifel und unterdrückte Gefühle. Auch sein Debütalbum, das im Herbst erschien, druckst nicht lange herum. Der erste Song, „Koffer“, ist Apsilons Antwort auf die Abschiebefantasien vieler deutscher Politikerinnen und Politiker.
Kannst uns hassen, wenn du Angst kriegst
Deutschland, ja, du kannst uns abschieben
Deine Rentner sammeln trotzdem Pfandflaschen aus den Tonnen
Und die Straßen bleiben kalt hier
Im Musikvideo bringt ein Fahrgast einen türkischen Taxifahrer um. Es basiert auf einem realen Fall. 1998 wurde ein Großonkel Apsilons in seinem Taxi ermordet, ihm ist das Video gewidmet.
Am 19. Februar 2020 ermordete in Hanau ein Rechtsterrorist neun Menschen mit Migrationshintergrund. Am nächsten Tag feiern trotzdem viele Karneval. „Hanau war das erste Mal, dass ich dachte: Okay, das hätten wirklich ich oder meine Cousins sein können“, sagt Apsilon. Er sei damals schon politisch aktiv gewesen. „Deswegen hat Hanau doppelt reingeknallt: Ich habe nicht nur getrauert, ich war auch wütend.“ Wut kann zerstörerisch sein, sie kann lähmen oder zu Hass gerinnen. Apsilon nutzt das Gefühl konstruktiv. Er schreibt seinen Track „Köfte“.
Sie seh’n Einzeltäter oder Psychos mit ’nem Colt
Ich seh nur, wie es leibt und lebt,
euer schönes Schwarz-Rot-Gold
Wie schon die Rap-Pioniere protestiert Apsilon in vielen Texten gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die Menschen mit Einwanderungsgeschichte immer noch anders sieht und behandelt. Wie steht er zu Labels, die man ihm verpasst: „türkeistämmig“, „Gastarbeiterenkel“? „Diese sprachlichen Weichspülversuche sind teilweise anstrengend, weil sie nicht zum Punkt kommen: Die Wirtschaft und große Teile der Gesellschaft sind ja nicht colorblind. Die behandeln uns wie Ausländer.“
Das K-Wort taucht immer wieder in Apsilons Diskografie auf, aber auf eine empowernde, selbstbezeichnende Weise, so wie es schon 1984 Cem Karaca mit seiner Musikgruppe Die Kanaken vorgemacht hat. Rock-Größen wie Karaca, Erkin Koray oder Fikret Kızılok, aber auch legendäre Bağlama-Spieler wie Neşet Ertaş oder Âşık Veysel sind türkische Musiker, die Arda und Arman seit ihrer Kindheit hören.
Straße glänzt, Kalbim voll,
Adler glänzt im Pasaport
Abi, Kardeş, Halle voll
Apsilon spricht fließend Türkisch. Und rappt – im Gegensatz zu Pionieren wie $lamic Force – auf Deutsch. Das erklärt er damit, dass er seinen Alltag, der sich in Deutschland und meist auf Deutsch abspielt, so am direktesten einfangen kann. Aber nicht, ohne türkische Wörter einzubauen. Kalbim. Mein Herz. Abi. Großer Bruder. Kardeş. Kleiner Bruder. Alle seine Musikvideos haben türkische Untertitel.
Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 93 „Rap” erschienen.
Das ganze Heft findet ihr hier.
Titelbild: Sony Music Germany