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In anderen Umständen

In Irland unterliegt ein Schwangerschaftsabbruch härtesten Restriktionen. Nun entscheiden die Iren per Referendum, ob das so bleiben soll. Überblick über einen gesellschaftlichen Großkonflikt, der schon seit 35 Jahren tobt

+++ Inzwischen liegt das Ergebnis des Referendums vor: Gut zwei Drittel der Iren haben für eine Lockerung des Abtreibungsrechtes gestimmt. Es war ein Erdrutschsieg des „Yes“-Lagers, mit dem so kaum jemand gerechnet hat. +++

Da ist sie wieder: Schwester Consilio, eine alte Dame mit grauen, ondulierten Haaren. Ihr Video schiebt sich ständig ungebeten auf den Computerbildschirm – ob man einen Flug buchen, ein Buch bestellen oder die neuesten Fußballergebnisse nachsehen will. Sie ist Hebamme, sagt Consilio, und sie hat die furchtbaren Folgen erlebt, die eine Abtreibung für Frauen hat.

Mit einem Klick landet man auf der Webseite LoveBoth, eine „nationale Bewegung, die sich dafür einsetzt, ein Nein am 25. Mai zu sichern“. An dem Tag müssen die Iren und Irinnen in einem Volksentscheid darüber abstimmen, ob der 1983 – ebenfalls nach einem Referendum – eingefügte 8. Zusatzartikel zur Verfassung, der dem Fötus dasselbe Lebensrecht wie der Schwangeren zugesteht, wieder aus der Verfassung gestrichen wird.

Mehr als 170.000 Irinnen sind in den vergangenen 35 Jahren zur Abtreibung nach England gereist

„Wenn er abgeschafft wird“, sagte Niamh Uí Bhriain von einer der zahlreichen Anti-Abtreibungsorganisationen, „dann wird auch der einzige verfassungsrechtliche Schutz für ungeborene Kinder abgeschafft.“ Dagegen weisen Frauenorganisationen darauf hin, dass seit dem damaligen Referendum mehr als 170.000 Irinnen zum Schwangerschaftsabbruch nach England gereist sind. Die genaue Zahl kennt niemand, denn viele geben in der Klinik die englische Adresse einer Freundin oder Verwandten an.

Das absolute Abtreibungsverbot ist für viele Tragödien verantwortlich, sagen die Organisationen, die für ein Ja beim Volksentscheid eintreten. Die erste ereignete sich wenige Monate nach dem Referendum. Es war der 31. Januar 1984, ein kalter Tag mit Schneeregen. Am Nachmittag fanden drei Schuljungen die 15-jährige Ann Lovett in der Mariengrotte der kleinen Stadt Granard in der ländlichen Grafschaft Longford. Sie war bewusstlos. Neben ihr lag ein totgeborenes Baby, das sie in ihren Mantel eingewickelt hatte. Wenige Stunden später starb Ann Lovett im Krankenhaus von Mullingar.

Erst 34 Jahre später, Anfang Mai 2018, erzählte Lovetts damaliger Freund Ricky McDonnell seine Geschichte. Er war 15, als er die 13-jährige Lovett in dem Wirtshaus ihrer Eltern kennenlernte. Kurz nach ihrem 14. Geburtstag begannen die beiden eine sexuelle Beziehung. Sie wurde schwanger, doch ihre Eltern bemerkten bis zum Schluss davon nichts. In einem Brief an McDonnell, den ihre Freundinnen nach ihrem Tod fanden, kündigte sie an, dass sie sich umbringen werde, falls sie nicht bei der Geburt sterbe. 

Befürworter und Gegner reißen sich gegenseitig die Plakate von den Laternenmasten

Der örtliche Pfarrer, so berichtet McDonnell, brachte ihn zu Bischof Colm O’Reilly, der ihm ein Gelübde abnahm, dass er niemals über seine Beziehung zu Ann Lovett sprechen werde. Heute bestreitet O’Reilly, dass er McDonnell jemals getroffen hat.

Der Fall erregte damals landesweite Aufmerksamkeit, und jetzt, kurz vor dem neuen Referendum, ist er wieder hochgekocht. Die Debatte wird äußerst emotional geführt, das Land ist gespalten. Befürworter und Gegner des Verfassungsparagrafen reißen sich gegenseitig die Plakate von den Laternenmasten. Fast jedes Wochenende demonstrieren beide Seiten in der Dubliner Innenstadt. Auf den Plakaten der einen steht: „Abtreibung: der stille Holocaust“. Die anderen skandieren: „Haltet eure Rosenkränze von unseren Eierstöcken fern.“ Im Englischen reimt sich das: „Keep your rosaries off our ovaries.“

 

Die Regierung hat angekündigt, dass sie Gesetze ermöglichen will, sollte das Referendum gewonnen werden. Sie will Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche auf Verlangen erlauben. Bei Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren sowie bei fötalen Missbildungen könne die Schwangerschaft auch später abgebrochen werden, wenn die Ärzte zustimmen, heißt es.

Der Gesetzentwurf ist höchst umstritten, weder die Regierungspartei Fine Gael (Stamm der Gälen) noch die große Oppositionspartei Fianna Fáil (Soldaten des Schicksals) sind offiziell für diese Regelung. Einzig die Partei Sinn Féin (Wir Selbst) setzt sich offen für ein Ja beim Referendum ein. Offiziell ist sie aber gegen die 12-Wochen-Regelung. Um das zu ändern, ist ein Parteitag nötig und der wird erst nach dem Referendum stattfinden. So hängt es letztlich von den einzelnen Abgeordneten ab, ob das Gesetz verabschiedet wird. Einen Fraktionszwang wird es nicht geben.

Einer 14-Jährigen, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war, wurde per Gerichtsbeschluss die Ausreise nach England verwehrt

1983 hatten mehr als zwei Drittel der Irinnen und Iren dafür gestimmt, das Lebensrecht von ungeborenen Kindern verfassungsrechtlich zu verankern. Manche Rechtsanwälte warnten, der Verfassungsparagraf könne dazu führen, dass Schwangere an der Ausreise zu einer Abtreibung in England gehindert werden. Man warf ihnen Angstmache vor. Doch neun Jahre später passierte genau das: Einer 14-Jährigen, die nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war, wurde per Gerichtsbeschluss die Ausreise nach England verwehrt. Das höchste irische Gericht hob das Urteil schließlich auf: Bei Lebensgefahr für eine Schwangere, und dazu zählten die Richter auch Suizidgefahr, sei ein Schwangerschaftsabbruch statthaft.

Die Debatte über Selbstgefährdung, aber auch Reisefreiheit kam ins Rollen: Frauenorganisationen monierten, dass eine Gesundheitsgefährdung der Schwangeren kein Abtreibungsgrund sein sollte; die Abreibungsgegner wollten nicht mal akute Lebensgefahr gelten lassen. In zwei Referenden sollte die Bevölkerung selbst entscheiden. Das erste Referendum, bei dem es darum ging, Frauen selbst bei drohendem Selbstmord die Abtreibung zu verweigern, scheiterte. Im zweiten Referendum im November 1992 entschieden die Wahlberechtigten, dass das Abtreibungsverbot nicht die Reisefreiheit einschränken soll.

Gerade um die Selbstmordklausel, aber auch gesundheitliche Gefahren gab es immer wieder Debatten. Auch 2013 kam wieder eine Diskussion auf, als die indische Zahnärztin Savita Halappanavar in der Universitätsklinik der westirischen Stadt Galway an einer Blutvergiftung starb, weil sich die Ärzte mit Hinweis auf das Abtreibungsverbot geweigert hatten, den nicht lebensfähigen Fötus aus ihrer Gebärmutter zu entfernen.

Daraufhin verabschiedete die Regierung eilig ein Gesetz, das zwar eine Abtreibung bei Lebensgefahr für die Schwangere erlaubt (bei akuter Gefahr kann ein Arzt entscheiden, bei nicht akuter Gefahr sind zwei Ärzte nötig, und bei Suizidgefahr drei), aber zunächst nicht bei Gefährdung ihrer Gesundheit, bei Vergewaltigung oder bei Missbildung des Fötus; nach öffentlichem Druck wurde auch dies erlaubt. 

Die katholische Kirche hat an Einfluss verloren – vermutlich wegen der Missbrauchsskandale 

Auf der Seite der Abtreibungsgegner hat die katholische Kirche hingegen in den letzten Jahren an Einfluss verloren. Dies liegt womöglich auch an Missbrauchsskandalen: 35.000 Kinder sind in katholischen Kinderheimen und Waisenhäusern zwischen 1914 und 2000 von Priestern und Mönchen missbraucht worden. Die katholische Kirche in Irland hatte den Missbrauch vielfach geduldet oder Täter gar geschützt.

Als nichtkirchlicher einflussreicher Verfechter des Abtreibungsverbots wurde Thomas Borwick von den Gegnern angeheuert, ein konservativer Engländer, der sich schon bei der britischen Brexit-Kampagne erfolgreich sozialer Medien und Internetkampagnen bedient hat. Die Videos von Schwester Consilio, die permanent auf dem Bildschirm auftauchen, sind Teil dieser Kampagne. Ob die Iren und Irinnen am 25. Mai zustimmen werden, den 8. Zusatzparagrafen aus ihrer Verfassung zu streichen, lässt sich schwer vorhersagen – das entscheiden sie allein.

Titelbild: Artur Widak/NurPhoto via Getty Images

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