
„Ich habe keine Freunde außerhalb Israels mehr“
Drei junge Israelis erzählen, wie der 7. Oktober 2023 ihr Leben für immer verändert hat. Und wie sie trotzdem versuchen, weiterzumachen
„An den Raketenalarm habe ich mich gewöhnt”Yarden Rubin
Yarden Rubin ist leidenschaftliche Gamerin – besonders Egoshooter wie „Valorant“ haben es ihr angetan. Beim Chatten mit Spieler:innen aus aller Welt sind echte Freundschaften entstanden, erzählt die 16-jährige Israeli. Auch ihr akzentfreies Englisch verdanke sie diesen Unterhaltungen. Doch inzwischen haben sie alle ihre Onlinefreund:innen blockiert und aus der gemeinsamen Discord-Chatgruppe geworfen. „Ich habe keine Freunde außerhalb Israels mehr“, sagt Yarden. Das sei traurig, aber es habe sie auch vielen Israelis nähergebracht: „Sie verstehen mich besser.“
Rubin kommt gerade von der Schule, aus dem Englischunterricht – ihrem Lieblingsfach. Sie sitzt auf der Terrasse eines Cafés in Sderot, der letzten israelischen Stadt vor Gaza, von der man auf den palästinensischen Küstenstreifen blicken kann. Auf dem Parkplatz davor stehen verstreut kleine Betonbunker; denn hier bleiben nur Sekunden, um Schutz zu suchen, wenn erneut Raketen aus dem Gazastreifen abgefeuert werden. Yarden war sieben Jahre alt, als sie mit ihrer Familie nach Sderot zog. Seitdem prägt Raketenalarm ihren Alltag. „Das war für mich anfangs beängstigend“, sagt sie. „Aber langsam habe ich mich daran gewöhnt.“ Selbst Yardens Schule fungiert als Bunker, sodass der Unterricht auch unter Beschuss weitergehen kann.

Yardens Psyche hat unter den Ereignissen seit dem 7. Oktober gelitten
Am 7. Oktober 2023, damals war sie 15, wurde Rubin von Sirenen und Schüssen geweckt. Schwer bewaffnete Kämpfer:innen der palästinensischen Terrororganisation Hamas und ihrer Verbündeten drangen in die kleine Stadt ein und verschanzten sich in der lokalen Polizeiwache. Yardens Vater holte seine Schusswaffe aus dem Tresor und hielt vor dem Familienhaus Wache. Ein Raketenteil schlug im Wohnzimmer einer Nachbarfamilie ein – sie suchten daraufhin Zuflucht bei den Rubins. Direkt nach dem Hamas-Angriff wurde die Schülerin in ein Hotel evakuiert. Ihre Eltern jedoch – der Vater ist im Schnelleinsatzteam einer Antiterroreinheit, die Mutter arbeitet im militärischen Kontrollzentrum – mussten in Sderot bleiben. Ihre Familie habe sie sehr vermisst, sagt Yarden. Aufgrund des Jobs ihrer Eltern konnte sie einen Monat später wieder zurück nach Hause – sehr viel früher als die meisten Bewohner:innen der Stadt, deren sichere Rückkehr erst im Februar 2024 genehmigt wurde.
„Es war sehr hart“, beschreibt sie die Zeit nach dem 7. Oktober. „Ich habe Angst, dass die Terroristen wieder in unser Land eindringen und etwas machen.“ Die Luftalarme in der Schule erschrecken sie nun wieder, sie habe ständig Angst und meide deshalb Nachrichten im Fernsehen: „Wenn ich etwas Schlimmes höre, weiß ich nicht mehr, ob ich am nächsten Tag in die Schule gehen kann.“ Seit Monaten sucht die 16-Jährige vergeblich nach einem geeigneten Therapieplatz. Deshalb will sie später Psychologin werden. „Seit dem 7. Oktober habe ich den großen Bedarf an Therapie erkannt“, erklärt Yarden. „Viele Israelis brauchen das.“
„Alles, was ich schreibe, ist für Yotam“Lidor Kalai
„Musik hat mir in den vergangenen anderthalb Jahren immer wieder geholfen, meine Gefühle und Emotionen zu verarbeiten“, sagt Lidor Kalai. Der 23-Jährige mit einer Leidenschaft für Metal lebt in Tel Aviv. Dort arbeitet er in einem Gitarrenladen und gründete die Band Persephore. Die sollte am 7. Oktober 2023 eines ihrer bislang größten Konzerte spielen.
Am frühen Morgen jenes Tages, als landesweit die Luftsirenen heulten, schrieb Kalai mit den anderen Bandmitgliedern im Gruppenchat auf WhatsApp. Schlagzeuger Yotam Haim, der im Kibbuz Kfar Aza wohnte, nicht mal drei Kilometer von Gaza entfernt, schickte Videos, in denen Schüsse vor seiner Wohnungstür zu hören waren, erinnert sich Kalai. Um 10.15 Uhr hörten die Nachrichten von Haim auf. Am nächsten Tag galt er als vermisst. Etwa zwei Wochen später wurde bestätigt, dass die Hamas ihn in den Gazastreifen verschleppt hatte. Seitdem habe Kalai immer wieder Albträume, in denen sein Freund Yotam Haim von Hamas-Terrorist:innen entführt wird: „Im Traum versucht Yotam wegzurennen, und dann wird er erschossen.“

Lidor verarbeitet den Tod seines ehemaligen Bandkollegen in Songtexten
Kalai und Haim hatten sich 2019 über Instagram kennengelernt. „Die ersten zwei Bandproben waren für ihn aufgrund seiner psychischen Gesundheit nicht leicht“, sagt Kalai. „Wir sagten ihm, wir akzeptieren ihn mit offenem Herzen und freuen uns, wenn er trotzdem dabei ist.“ Alle in der Band hätten mit psychischen Themen zu kämpfen. Kalai selbst leide unter wiederkehrenden Depressionen. Für ihn sei gerade das der Reiz an Metalmusik: „Leute denken, dass Metalbands nur brüllen würden. Aus meiner Sicht schreien sie ihre Emotionen heraus.“ Im Dezember 2023 erreichte die Band eine Nachricht: Yotam Haim wurde von israelischen Soldat:innen in Gaza versehentlich erschossen, nachdem er mit zwei weiteren Geiseln entkommen war. Kalai sagt, sein Albtraum sei irgendwie wahr geworden.
Die Band widmete dem verstorbenen Schlagzeuger die Single „War Zone“. „Es ist ein trauriger Song“, sagt Kalai. „Viele meiner Freunde wollen ihn nicht hören, sie würden sonst nur weinen.“ Im September 2024 trat Persephore vor hunderten Fans in Tel Aviv auf – die Unterstützung in Israel ist groß. Doch für Kalai sei es nicht immer leicht gewesen, einfach weiterzumachen: „Ich hatte wenig Motivation zu proben, ich habe nur an Yotam gedacht.“ Deshalb hat er die Gruppe inzwischen verlassen und eine neue Band gegründet.
„Alles, was ich schreibe, ist für Yotam“, sagt der junge Musiker. Die Lieder seien wütend, aggressiv, als würde man jemandem ins Gesicht hauen. „Das ist nicht unbedingt Yotams Lieblingsstil“, gibt Kalai zu, „aber die Songs hätten ihm gut gefallen, denke ich.“
„Ich sehe es als Privileg, zu dienen, nicht als Pflicht“Daria Pear
Daria Pear wuchs in einer religiösen jüdischen Familie in Jerusalem auf, ihr Vater ist Rabbi. Obwohl sie persönlich Aspekte der orthodoxen Lebensart kritisiert, gilt sie als orthodoxe Jüdin – und war als solche zu dieser Zeit nicht dazu verpflichtet, einen Wehrdienst zu leisten. Dennoch entschied sie sich freiwillig dafür. „Ich sehe es als Privileg, zu dienen, nicht als Pflicht“, sagt Daria. Im Dezember 2023, zwei Monate nach Kriegsbeginn, trat sie der israelischen Armee bei.
Daria sitzt in einem Lokal im Süden der Stadt. Über ihrer Schulter hängt ein M16-Gewehr. Wenn sie nicht im Einsatz ist, muss sie die Waffe auseinanderbauen und deren Einzelteile an drei verschiedenen Orten im Haus verstecken. Deshalb nehme sie das Gewehr oft einfach mit, sagt sie – zum Kaffeetrinken, in den Bus oder in die Shoppingmall. Außerdem: „Es beruhigt mich, aber auch die Menschen um mich herum“, sagt Daria. „Es ist empowernd.“ In der Armee unterrichtet die junge Frau Hebräisch, ihre Schüler:innen sind vor allem arabische Drus:innen, die wegen ihrer israelischen Staatsbürgerschaft im israelischen Militär dienen. Oft seien sie im Westjordanland unterwegs, um Stützpunkte zu besuchen. Auch hier fühlt sich Daria dank ihres Gewehrs sicherer; denn die Armeeuniform mache sie automatisch zum Ziel von Terrorist:innen, ob sie nun bewaffnet sei oder nicht.

Daria fühlt sich auch im Alltag sicherer, wenn sie ihr Gewehr dabei hat
Mitte Januar 2025 gab es in Tel Aviv zwei Messerattacken innerhalb einer Woche, in beiden Fällen wurde der Täter von einem Passanten erschossen. An solche Situationen denkt Daria oft: „Wenn ich mein Gewehr benutzen müsste, dann würde ich abdrücken.“ Dass das Tragen einer Schusswaffe in der Öffentlichkeit sie auch zum Ziel mache, sei ihr bewusst, „aber wenn das anderen Zivilisten mehr Zeit gibt, sich in Sicherheit zu bringen, dann finde ich das gut“, sagt sie. Gleichzeit habe sie immer eine Hand auf der Waffe, aus Angst, dass jemand sie schnappen könnte.„Man muss verstehen, dass es in jeder Generation Menschen gibt, die aus irgendeinem Grund Juden töten wollen“, sagt Daria. Das sei heute nicht anders.
Vor dem 7. Oktober 2023 sei sie progressiven Influencer:innen und Content-Creator:innen aus den USA gefolgt, viele hätten aber die Israelis im Stich gelassen, kritisiert sie. „Was gibt Menschen in meinem Alter in anderen Ländern die Legitimität, über diesen jahrhundertealten Konflikt so zu sprechen, als wüssten sie ganz genau, wer 100 Prozent schuld an allem ist und wer nicht?“ Besonders das Schicksal von Hersh Goldberg-Polin, einer amerikanisch-israelischen Geisel, hat sich Daria Pear eingebrannt: Am 7. Oktober 2023 wurde er vom Musikfestival Nova entführt, im August 2024 mit fünf weiteren Geiseln per Kopfschuss in Gaza hingerichtet. Das habe sie besonders hart getroffen. „Er ist nur ein paar Jahre älter als ich, er wuchs bei mir um die Ecke auf“, sagt Daria. „Auch wenn ich weiter an den Zionismus glaube und optimistisch sein will, dachte ich in dem Moment: Dieses Land ist heilig, aber auch verflucht.“
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