Es gibt diese Freundschaften, in denen man sich im analogen Leben über die Jahre aus den Augen verliert, aber immerhin über Social Media den Kontakt hält: durch geteilten Humor und einen stetigen Meme-Austausch. Vor ein paar Jahren sendete ich mir mit einem dieser Freunde für ein paar Lacher absurde Konzepte aus der Incel-Ideologie hin und her, Dinge wie „Gigachads“, „Looksmaxing“ oder „Mewing“. Letzteres sind zum Beispiel Übungen, die zu einer ausgeprägteren Kieferpartie führen sollen, mit der man innerhalb einer Männlichkeitshierarchie zum „Chad“ avancieren könne, der an der Spitze der sexuellen Nahrungskette steht.
Incel steht für „involuntary celibate“, also unfreiwilliger Zölibat, und ist die Bezeichnung einer Internetsubkultur vornehmlich junger Männer, die keine sexuellen oder romantischen Beziehungen zu Frauen haben – obwohl sie gerne welche hätten – und auch jegliche Hoffnung darauf verloren haben. Die Schuld an ihrer Misere geben sie den Frauen, was sie mit einem ganzen Arsenal pseudowissenschaftlicher Theorien vermeintlich belegen. Mein Freund und ich nahmen die Incels damals als nerdige Randgruppe wahr, als Freaks aus den hintersten Nischen des Internets.
Zwischen Fitness-YouTuber und Businesscoach
Spulen wir vor zum Sommer 2022: Derselbe Freund teilt in seiner Instagram-Story Videos von Andrew Tate, dem „King of Toxic Masculinity“. Tate ist wohl der bekannteste Vertreter eines bestimmten Typus von Influencer, von dem es mittlerweile etliche gibt: gut gebaute Kerle, die gerne in engen Anzügen auftreten und Disziplin und Männlichkeit predigen, irgendwo zwischen Fitness-YouTuber und Businesscoach.
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Das wäre erst mal kein Problem, würde dieser Typus nicht in erster Linie durch antifeministische bis frauenverachtende Aussagen auf sich aufmerksam machen. Frauen seien dumm, Frauen seien nach der Heirat das Eigentum der Männer, einen Mädelsurlaub der Freundin könne man als Mann nicht tolerieren – so unter anderem der Wortlaut. Das alles spielt sich aber nicht mehr länger in dubiosen Internetforen ab, sondern in den Social-Media-Feeds von Abermillionen jungen Männern.
„Wie kann man diesen Typen nur feiern?“, frage ich meinen alten Schulfreund, als er mir bei einem Glas Çay gegenübersitzt. Wir haben uns an diesem Abend unweit seines Start-up-Büros zusammengefunden, gerade erst hat er Feierabend gemacht. „Ich denke, es ist dieser Kontrast aus einem extravaganten Lifestyle und gleichzeitiger Selbstkontrolle – man hat das Gefühl, der hat sein Leben total im Griff.“
Das habe nichts mit Incels zu tun, sagt mein Freund. Dass Frauen bei Männern nur nach Status gehen, glaube er nicht, und von Strategien, wie man am besten bei ihnen ankommt, halte er erst recht nichts.
Auch ich spüre, dass sich diese typischen Männlichkeitsvideos gewandelt haben. Das Ideal des „Alphas“, einem von Frauen verehrten Socialite und Playboy, scheint einem neuen Bild gewichen zu sein: Die Influencer geben sich diszipliniert und weniger sozial, sie predigen eher Enthaltsamkeit als Hedonismus. Feiern gehen, Frauen anmachen und Pornos gucken sind out, stattdessen sind durchgetaktete Tagespläne, kaltes Duschen und sogar Religiosität angesagt. Das neue Ideal nennen manche „Sigma-Male“ und das dazugehörige Credo „Sigma-Grindset“, was bedeutet: 24/7 „hustlen“ für den finanziellen Erfolg.
Mit den vulgär frauenverachtenden Aussagen geht mein Freund also nicht mit, räumt aber ein, dass er traditionelle Geschlechterrollen mit dem Mann als Versorger und der Frau zu Hause als das „vernünftigere“ Modell betrachtet. Männer seien seiner Intuition nach das rationalere, Frauen das empathischere Wesen. „Vielleicht hat es auch was Gutes, wenn diese Rollen aufbrechen. Aber eigentlich bin ich da konservativer. Ich glaube, das könnte auch den Verfall unserer Gesellschaft bedeuten.“
„Die Manosphere lässt sich nicht als ein abgeschlossener Mikrokosmos von irren Extremisten verstehen, der nichts mit dem Rest der Gesellschaft zu tun hat“
Dass dieses Bedrohungsszenario im Mainstream angekommen ist, bereitet Ann-Kathrin Rothermel Sorgen. Sie forscht an der Universität Bern zu Antifeminismus und Radikalisierung und setzt sich intensiv mit der sogenannten Manosphere auseinander. Darunter versteht sie eine digitale Gemeinschaft, in der in aller Regel frauenverachtende und antifeministische Ansichten vertreten werden.
„Gerade in Bezug auf Genderthemen gibt es dieses Narrativ, die Gesellschaft sei bedroht und wir müssten sie wiederherstellen“, sagt sie. Es sei halt einfacher zu proklamieren, wie man lebe, sei bedroht, als sich eine alternative Gesellschaft vorzustellen oder sogar für diese einzustehen. „Die Manosphere lässt sich nicht als ein abgeschlossener Mikrokosmos von irren Extremisten verstehen, der nichts mit dem Rest der Gesellschaft zu tun hat“, erklärt Rothermel, „aber auch nicht nur als Einstiegsdroge zum Rechtsextremismus, wie gerne behauptet wird.“ Hinter beidem stecke der Gedanke, dass die Menschen in der Mitte der Gesellschaft damit nichts zu tun hätten. Dabei könne die Manosphere gerade im Mainstream an Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit anknüpfen und sie zu etwas Extremem hochschaukeln.
Forschende machen in der Manosphere ganz unterschiedliche Gruppen aus: Neben den Incels und den Influencern sind das zum Beispiel Pick-up Artists oder traditionelle Männerrechtsaktivisten. Auch wenn sie ihre Differenzen haben, eint sie doch die Idee der „Male Supremacy“, der männlichen Überlegenheit oder Vorherrschaft. So wird ihre Ideologie von manchen Forschenden genannt. „Ich finde diesen Begriff gut, weil er das Systemische hervorhebt, statt Misogynie auf etwas Individuelles zu reduzieren“, sagt Rothermel. Wenn sich jemand zum Frauenhasser erkläre, basiere das eben nicht auf einer rein individuellen Entscheidung, sondern greife gesellschaftlich tief verankerte Vorstellungen von männlicher Überlegenheit auf.
Der Überlegenheitsgedanke führt zu Frauenhass
Selbst wenn viele der Influencer beteuern, dass es ihnen darum ginge, Frauen zu „ehren“, ergäbe sich aus dem Überlegenheitsgedanken und der daraus resultierenden Rollenvorstellung automatisch Misogynie, betont Rothermel. Wenn Männlichkeit überlegen sein soll, muss „das Andere“, in diesem Fall Weiblichkeit, ja zwangsläufig abgewertet werden. „Misogynie ist nichts anderes als die Bestrafung von Menschen, die von starren Geschlechterrollen abweichen. Es trifft Frauen, weil sie das in unserer momentanen Gesellschaft oft tun.“
Auch nachdem wir das zweite Glas Tee getrunken haben, kann ich meinen Freund nicht dazu bewegen, die Influencer der Manosphere für ihre frauenverachtenden Aussagen abzulehnen – „dafür geben die mir Dinge mit, die ich zu wichtig finde“, sagt er. „Die Prämisse ist Eigenverantwortung, das gefällt mir einfach. Das ist eine Mentalität, die befähigt.“ Allerdings gibt er zu, dass seine Sympathie nicht ganz rational sei: „Vielleicht spielt es eine Rolle, dass ich in meinem Leben nie eine männliche Vorbildfigur hatte, und ich kompensiere das mit jemandem, der das im Extremen repräsentiert.“
Zu Hause angekommen, gucke ich ein Motivationsvideo, in dem verschiedene Clips von Tate zusammengeschnitten sind: „FIX YOUR MIND“ heißt es und hat 5,3 Millionen Views, mittlerweile ist es gelöscht. Die Message: Das Einzige, worüber man im Leben wahrlich Kontrolle habe, sei die eigene Geisteshaltung. Disziplin sei demnach eine Entscheidung – man müsse auch arbeiten, wenn man sich nicht danach fühle. Ganz ehrlich, auch wenn ich diesen Typen ablehne, kann ich in diesem Moment den Reiz, den solche Videos auf meinen Freund ausüben, besser nachvollziehen. Auch mich spornt das irgendwie an, härter zu arbeiten – zum Beispiel an diesem Text.
Die „Krise der Männlichkeit“ werde immer diagnostiziert, sobald die Gesellschaft etwas gleichberechtigter werde, sagt die Forscherin Ann-Kathrin Rothermel
Ann-Kathrin Rothermel findet es gut, dass ich meinem Freund auf einer persönlichen Ebene begegnet bin, um seine Haltung zu verstehen. Gesellschaftlich müsse man jedoch klarer Stellung beziehen, statt dem Narrativ einer „Krise der Männlichkeit“ nachzugeben, wonach Männer Unterstützung bräuchten. Diese Krise werde nämlich immer wieder diagnostiziert, sobald die Gesellschaft etwas gleichberechtigter werde – selbst schon, nachdem das Frauenwahlrecht eingeführt worden sei. „So werden nur immer wieder alte Strukturen verfestigt“, meint sie. „Was dabei total verloren geht, ist, dass es auch für Männer befreiend sein kann, wenn sie nicht alle Alpha-Macker sein müssen.“
Seitdem Tate von Instagram und TikTok gebannt wurde und er wegen Vergewaltigung, sexueller Ausbeutung, Menschenhandel und Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt wurde, ist sein Content nicht mehr so allgegenwärtig. Er liefert aber die Blaupause für andere Internetpersönlichkeiten, die in seine Fußstapfen treten und teilweise noch extremere Botschaften in die Welt tragen. Wie der ehemalige YouTuber Sneako, der mit harmlosen Umfragevideos und Vlogs bekannt wurde und jetzt Hass gegen Frauen, Schwule und auch Juden schürt.
Es scheint eine Kombination aus reaktionären Geschlechterrollen und Hyperindividualismus zu sein, die die Männlichkeitsinfluencer à la Tate boomen lässt. Ihr ganzer Kosmos funktioniert nach der Vorstellung, dass gesellschaftliche Unterschiede und Erfolg sich allein daraus ergeben würden, wer konsequenter früh aufsteht, seine Bedürfnisse und Gefühle hintanstellt und stattdessen unerlässlich ackert. Es verwundert nicht, dass dieser Teil der Manosphere mainstreamfähiger ist als die fatalistischen Incels – wir lieben doch alle eine gute Tellerwäscher-zum-Millionär-Story.
Im Endeffekt tun Männlichkeitsinfluencer dasselbe wie viele andere, die Hass verbreiten: Sie liefern einfache Antworten auf eine komplexe Welt und vermitteln ihren Jüngern ein Selbstwertgefühl, das auf der Abwertung anderer basiert. Ein historisch erprobtes Erfolgsrezept, das gerade in krisenhaften Zeiten funktioniert.
Titelbild: Matt Cardy/Getty Images – Vadim Ghirda/picture alliance / ASSOCIATED PRESS