Thema – Zahlen

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Als ich Nerd war

So ein Mathestudium ist hart. So hart, dass unser Autor froh war, auch noch Philosophie zu studieren. Eine persönliche Bilanz

Spickzettel des Autors

Da saß ich nun in der Klausur – ausgerüstet mit zahllosen Stiften, einem Taschenrechner und einem riesigen Spickzettel. Doch der konnte mir ohnehin nicht mehr als ein paar Formeln liefern – auf den Lösungsweg musste ich selber kommen. Selbst ein Telefonjoker hätte mir nicht weitergeholfen: Wen hätte ich anrufen sollen? Kaum jemand aus meinem Bekanntenkreis konnte noch verstehen, was hier vor sich geht: dass z.B. Bernstein-Polynome keine fossilen Schmuckstücke sind, sondern ein geeignetes Hilfsmittel, um den Weierstraßschen Approximationssatz zu beweisen. Man könnte sagen, mein Mathestudium war bisher eine stetige Funktion – und die war gerade an ihrem lokalen Tiefpunkt angelangt.

Immerhin: Vier Semester hatte ich bereits durchgehalten. Ein beachtlicher Erfolg, wie ich fand. Denn um an besagtem Freitagmittag überhaupt über der Klausur zur „Funktionentheorie“ verzweifeln zu dürfen, musste ich jede Woche mindestens die Hälfte aller Übungsaufgaben lösen – so wie in all den Semestern für all die Klausuren zuvor auch schon. Ein Übungsblatt beanspruchte dabei schon mal ein ganzes Wochenende.

Mathe ist hart, da gab es längst keine Zweifel mehr. Und diese Härte hat Folgen: 58 Prozent der Studierenden brechen ihr Bachelorstudium an Universitäten vorzeitig ab. Warum also tat ich mir das überhaupt an?

„Das Studium veränderte mein Denken: Überall sah ich Formen und Formeln“

Eigentlich begann die Geschichte harmlos: Weil ich
Mathe als Jugendlicher weniger schlimm fand als andere Fächer, entschied ich mich für den Leistungskurs. Und nachdem ich auch dort keine größeren Probleme hatte, landete ich an der Marburger Philipps- Universität: Mathematik und Philosophie auf Gymnasiallehramt. Am Anfang meiner persönlichen Mathefunktion stand also jugendliche Intuition.

Das Studium veränderte mein Denken. In meinem Kopf ging es mitunter äußerst abstrakt zu: Überall sah ich Formen und Formeln. Oft rechnete ich Beträge beim Einkauf schneller aus als die Kasse. Ich lernte, Probleme zu lösen, indem ich alle möglichen Sachverhalte in die Sprache der Mathematik übersetzte. Das heißt: Man verallgemeinert und vergleicht, man klassifiziert und konkretisiert. Ja, ich wurde zum Freak.

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Ich versuchte sogar, mein Umfeld mit dem Mathevirus zu infizieren, vergebens. Wurde ich auf Unipartys gefragt, was ich denn studiere, verschwieg ich das mit den Zahlen irgendwann lieber – einfach um einen schönen Abend zu haben. Schließlich gilt man schnell als Nerd.

Der große Universalgelehrte Galileo Galilei glaubte, dass „das Universum in der Sprache der Mathematik geschrieben“ sei. Ich habe während meines Studiums unzählige Stunden mit den Fibonacci-Zahlen, der ebenso magischen Kreiszahl Pi oder dem Umgang der Mathematik mit der Unendlichkeit verbracht. Bei alledem tauchte immer wieder die Frage auf: Hatte Galilei recht – oder ist die Mathematik doch nur eine Kopfgeburt, wenngleich eine sehr ausgefuchste?

Solch spannende philosophische Fragen aber wurden im Mathestudium nicht diskutiert – man kann dabei schließlich weder rechnen noch etwas beweisen. Für mich blieb die Mathematik daher leider in ihrem eigenen System gefangen. Besser aufgehoben war ich in meinem anderen Studienfach. Auch dafür ist Logik wichtig – und doch ist Philosophie so viel mehr: Sie stellt sich selbst infrage und kommt aphoristisch daher, sie ist politisch, kreativ – und lässt den Studierenden Freiheiten.

Je mehr mich die Philosophie faszinierte, desto schwieriger war es, mich für Mathe zu begeistern. Meinen Abschluss habe ich nach einigen Semestern Unipause dennoch gemacht. Am Ende war es weniger meine Faszination als mein Ehrgeiz, der mich dorthin brachte – aber nicht weiter. Nach dem Studium bin ich weder Lehrer geworden, noch habe ich mich weiter mit Mathe befasst. Vielmehr bin ich endlich meiner Leidenschaft gefolgt. Irgendwann muss eine jugendliche Entscheidung ja auch mal ein Ende finden. Nach echten Punkten, konkaven Vielecken und Fibonacci-Zahlen freilich halte ich noch immer Ausschau.

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