Auf dem großen braunen Papierumschlag steht handschriftlich: „Slip“. Auf einem anderen: „Nachthemd“, mit Filzstift. Auf einem dritten: „Hufeisen“. Das Metallregal quillt fast über, es ist voller Umschläge, die mit blauem Klebeband verschlossen sind. Darin sind Fundstücke, an denen vielleicht noch etwas vom Täter haftet. Ein winziger Blutfleck. Ein Rest Sperma. Ein einzelnes Haar. Eingetrockneter Speichel. Ein paar Zellen von der Haut.
Landeskriminalamt Hamburg, vierter Stock, ein Flur, der besonders gesichert ist. Betreten kann man ihn nur mit Chipkarte, in die Laborräume darf nur, wer seine Gene vorher hat registrieren lassen – damit nicht eine herunterrieselnde Hautschuppe eine falsche Fährte legt, eine Spur, die wegführt vom Täter. Wer zu Besuch ist, dem bleibt nur der Blick durch die Bullaugen der Labortüren: Eine Mitarbeiterin, vermummt mit Mundschutz, Handschuhen, hellgrüner Haube, vor ihr auf dem Tisch liegt ein Brecheisen, sie hebt es hoch, mustert, fotografiert es. Es ist der erste Untersuchungsschritt von vielen.
Die DNA-Analyse gilt heute als eine der stärksten Waffen der Kriminaltechnik, doch manchmal staunen selbst die Biologen hier im Landeskriminalamt noch. Christiane Röscheisen, die Leiterin der Abteilung, erinnert sich an ein Messer, das eines Tages in einem der braunen Papierumschläge auf ihrem Flur ankam. Die Ermittler hatten es in einem Fluss gefunden. Die Klinge: blitzblank, kein Blut, kein Gewebe, nichts. Oder doch? Im Labor fanden die Biologen dann DNA, die das Wasser nicht weggespült hatte – vom Täter und vom Opfer gleichermaßen. „Wenn das dann funktioniert, ist man schon sehr überrascht“, sagt Röscheisen. Am Ende bekommen die Ermittler aus dem Labor eine Nummer, eine Ziffernfolge für die Gen-Spuren. Diese Nummer können sie mit der zentralen DNA-Analysedatei des Bundeskriminalamtes abgleichen.
Dort sind zum Ende des zweiten Quartals 2016 die DNA-Profile von 857.666 Personen gespeichert. Zum Vergleich: Das entspricht immerhin gut einem Prozent der deutschen Bevölkerung. Bei etwa jeder dritten Spur lässt sich durch die Gen-Abfrage inzwischen ein potenzieller Täter ermitteln.
Das heißt umgekehrt aber auch: Bei zwei von drei Gen-Spuren bleibt der Abgleich ergebnislos. Wenn der Täter nicht noch irgendwo auftaucht, sich das Erbgut nicht in irgendein Polizeilabor verirrt und von dort in die Zentraldatei, bleibt die Spur wertlos. Über dieses Dilemma kommt die ausgefeilte Labortechnik nicht hinweg: Finden kann die Polizei mit der DNA-Analyse nur Personen, die sie im Prinzip schon kennt.
Was tun? Es gäbe eine Möglichkeit: Die Ermittler könnten die Person, deren Gene sie schon im Labor haben, besser kennenlernen. Denn im Erbgut stecken unzählige Informationen, die bislang noch gar nicht genutzt werden.
Mehr als 90 Prozent der DNA tragen keinerlei Information über Aussehen, Statur, Persönlichkeit, Krankheiten. Ein großer Teil davon dürfte bloß sogenannte Junk-DNA sein, Gen- Schrott ohne jeden erkennbaren Zweck. Herausfiltern dürfen die Ermittler allein den informationslosen Teil des Erbguts – und das Geschlecht. Um Menschen eindeutig zu identifizieren, ist dieser Blindtext variantenreich genug.
Aber wenn das die Suche nach dem Täter nicht voranbringt? „Ich wüsste eine Reihe von Fällen, wo es den Ermittlern helfen würde, wenn sie ein paar Informationen mehr hätten“, sagt Biologin Röscheisen vom LKA Hamburg: die Haarfarbe, die Augenfarbe, die ethnische Abstammung. Nur geben darf das Labor diese Daten den Ermittlern nicht. Würde sie das gern ändern? Die LKA-Gutachterin äußert sich zurückhaltend: Es bräuchte erst eine Verständigung der Gesellschaft darüber, wie weit man die Polizei in die Gene der Menschen blicken lassen will.
In den Niederlanden dürfen die Ermittler bereits mehr aus der DNA lesen – seit ein spektakulärer Mordfall dort Schlagzeilen machte. Am 1. Mai 1999 wurde ein 16-jähriges Mädchen in Kollum, einer Kleinstadt in Friesland, vergewaltigt und ermordet. Zwölf Verdächtige ermittelte die Polizei, auf niemanden passte das DNA-Muster vom Tatort. Derweil kochte im Ort die Stimmung über: Die Bevölkerung hatte schnell die Bewohner eines Asylbewerberheims im Verdacht, die Lage wurde zwischenzeitlich so bedrohlich, dass Bereitschaftspolizisten das Heim sichern mussten. Die Ermittler griffen schließlich zu einem damals noch verbotenen Verfahren: Sie schickten die Gen-Probe zur weiteren Untersuchung ins Labor der Uni Leiden, um Hinweise auf die ethnische Abstammung des Täters zu bekommen. Dort stellte sich heraus: Der Täter ist höchstwahrscheinlich ein Europäer, ein Niederländer, kein Flüchtling. Später lockerte das niederländische Parlament das Gesetz; die Herkunft ist für die Gen-Labore seither nicht mehr grundsätzlich tabu.
Der Präzedenzfall zeigt bereits, welcher Sprengstoff in einer so weitreichenden Analyse stecken könnte: Was wäre passiert, wenn der Test die Bewohner des Flüchtlingsheims nicht entlastet hätte? Wenn vielleicht rein zufällig, aus irgendeinem anderen Grund auch deren Gene am Tatort aufgetaucht wären? Wie geht man mit einer Technik um, deren Beweiskraft auf viele schnell so erdrückend wirkt, dass sie andere Erklärungen kaum noch in Betracht ziehen? Wie viel sollte die Polizei über einen Täter wissen dürfen?
Für Manfred Kayser, einen deutschen Professor für forensische Molekularbiologie an der Erasmus-Universität Rotterdam, sind das unnötige Fragen. Die Gen-Spuren sieht er eher als eine Art Augenzeugenbericht an, nur weniger fehleranfällig: Wo Menschen sich irren, können die Gene sichere Beschreibungen eines Täters liefern. Warum sollte man das nicht nutzen können? „Das Aussehen ist keine Privatsache“, sagt Kayser. „Für äußere Merkmale gibt es keinen Datenschutz.“
Fieberhaft versucht Kayser, der DNA mehr Informationen zu entlocken. Für die Augenfarbe funktioniert der Test bereits recht gut: Sechs Gene werden dabei analysiert, sechs Stellen in dem langen Codewort der DNA. Am Ende bekommen die Ermittler eine Tabelle mit drei Wahrscheinlichkeitswerten, jeweils für blaue Augen, braune Augen und einen Mischton wie Grün oder Grau. Dort können sie dann lesen, dass der Täter zum Beispiel mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent blauäugig ist.
Für die zehn Prozent Zweifel sind die vielen anderen Gene verantwortlich, die die Forscher nicht testen, die sie vielleicht nicht einmal kennen. Hunderte, vielleicht Tausende Stellen im DNA-Code, die den Farbton der Augen mitmischen.
Bei anderen Merkmalen ist das Erbgut schon sehr viel schwieriger zu entziffern. Es gilt: Je mehr Gene das Merkmal mitbestimmen, desto größer ist der Aufwand, um sie zu finden. Die Gesichtszüge sind so ein Beispiel.
In einer Studie konnten Kayser und seine Kollegen fünf Gene finden, fünf von wohl Tausenden, die noch unentdeckt sind. Den größten Einfluss hat dabei ein Gen mit dem Namen TP63: Es schiebt die Augen weiter auseinander oder näher zusammen – um maximal 1,8 Millimeter. Allein um diesen winzigen Unterschied im Augenabstand aus der DNA zu entziffern, brauchten die Forscher die Vergleichsdaten von mehr als 9.000 Menschen. „Von einem genetischen Phantombild, das mehr als Geschlecht, Augen-, Haar-, und Hautfarbe sowie geografische Abstammung zeigt, sind wir noch weit entfernt“, sagt Kayser.
Dennoch wirbt die US-Firma Parabon NanoLabs genau damit. Für Kayser und andere Genetiker wirkt das unseriös, das Unternehmen mache seine Methoden nicht transparent. Manchen Kunden schreckt das nicht: In Hongkong hatte eine Umweltinitiative im vergangenen Jahr weggeworfene Zigarettenstummel und ausgespuckte Kaugummis in die USA geschickt. Sie bekam 27 Phantombilder zurück, die überall in der Stadt großflächig plakatiert wurden: Seht her, das sind die Bürger, die ihren Müll auf die Straße werfen.