Im Juni wurde der größte deutsche Schlachtbetrieb für Schweine zum wohl größten Superspreader des Landes: In der Tönnies-Fleischfabrik infizierten sich rund 1.500 Arbeiter:innen mit dem Coronavirus, mehr als 6.000 Personen aus den Kreisen Gütersloh und Warendorf mussten daraufhin in Quarantäne. Von da an konnten sich auf dem Dach des Stammwerks in Rheda-Wiedenbrück noch so viele fröhliche Tier-Cartoons tummeln und auf der Tönnies-Website Schlagworte wie „gesund“, „nachhaltig“ und „verantwortungsvoll“ – die öffentliche Debatte drehte sich vor allem darum, wie tier- und menschengerecht Großschlachthöfe in Deutschland sind.
Lange Tage, aber dafür niedrige Löhne
Die Regisseurin Yulia Lokshina hat sich die Lebens- und Arbeitsumstände der zahlreichen osteuropäischen Tönnies-Mitarbeiter:innen angeschaut, schon bevor Covid-19 ausbrach. Aufmerksam auf das Thema wurde sie durch einen Fall, der 2015 Schlagzeilen machte: Die rumänische Gastarbeiterin Michaela C. hatte ihre Schwangerschaft aus Furcht vor einer Kündigung verheimlicht, gebar das Kind in einer Garage und legte es in eine Tüte verpackt auf einem Parkplatz ab. Die Firma Tönnies trifft juristisch keine direkte Schuld daran, doch den Vorgang deuten einige als Hinweis auf die Arbeitsbedingungen der Arbeiter, die der Betrieb zu niedrigen Löhnen über Werkverträge anstellt und in beengten Wohnverhältnissen unterbringt.
Lokshina konnte das Vertrauen von Betroffenen gewinnen, die ihr von zehn-, zwölf- oder auch mal siebzehnstündigen Arbeitstagen berichten, von acht Kilometern Fußweg zum Betrieb, weil nachts keine Busse fahren, von Subunternehmen, die weder Überstunden noch Nachtzuschläge zahlen, aber dafür viele Abmahnungen schreiben. Die Arbeitsmigranten wirken auf sie wie eine Parallelgesellschaft.
Der Dokumentarfilm „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ ist nicht als Reportage mit erklärendem Voiceover strukturiert, sondern als Essay, bei dem das Publikum die einzelnen Fragmente selbst zu einem Ganzen zusammenbauen muss. Als etwa Michaela C. auftritt, ist zunächst unklar, um wen es sich handelt. Auch die Hintergründe der anderen Mitwirkenden ergeben sich erst nach und nach.
Parallel zum Tönnies-Bericht begleitet Lokshina eine Schüler-Theatergruppe aus München, die Bertolt Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ diskutiert und probt. Das zwischen 1929 und 1930 verfasste Stück prangert die elenden Zustände in den Schlachthäusern von Chicago an. Dass die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie bis heute heftig kritisiert werden, regt zum Nachdenken an. Leider bleibt der Exkurs der Schüler insgesamt eher dünn und aussageschwach.
Weh tun auch die Bilder, die man nicht sieht
An den Schlachtplätzen konnte das Filmteam nur unter strengen Auflagen drehen. Deshalb sieht man keine Bilder von zerlegten Tieren. Was man aber sieht: Menschen. Was sie erleben und erleiden, lässt sich aus ihren Gesichtern ablesen. „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ ist wie ein Seismograf, der nicht den Hotspot der Erschütterung zeigt, sondern Facetten der Ausläufer. Symptomatisch dafür ist eine lange Kamerafahrt, die den Sicherheitszaun vor der Tönnies-Fabrik vermisst: Obwohl die Kamera draußen bleibt, lässt sich das Ausmaß der Probleme erahnen, die drinnen vor sich gehen.
Yulia Lokshina hat keinen gewöhnlichen Dokumentarfilm gedreht, das ist schon vom Intro an klar: Eine Nachtsichtkamera, das Bild grünschwarz, hält auf eine Schweinebox. Darin stupst ein apathisch wirkendes Tier mit der Schnauze einen Gummiball an, dazu läuft beschwingte Musik, während eine Erzählerin aus dem Off an den Unfalltod eines polnischen Schlachters erinnert: Stanislaw wurde vom Band in die Maschine gezogen, tags darauf trugen die Arbeiter Schwarz. „Erinnerst du dich?“, fragt die Frauenstimme. Der vielschichtige Film von Yulia Lokshina leistet jedenfalls einen Beitrag dazu, dass die Lage der Gastarbeiter:innen nicht allzu schnell vergessen wird.
„Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ (Deutschland 2020, 96 Minuten) läuft ab dem 22. Oktober in den Kinos.