Update, 7.11.: Das Interview wurde kurz vor der Wahl geführt. Nach Tagen des Wartens ist mittlerweile klar: Der Demokrat Joe Biden wird nächster US-Präsident.
Ein US-Präsident, der Zweifel am Briefwahlverfahren äußert, 50 Millionen nicht-registrierte Wahlberechtigte und ein Oberstes Gericht, das am Ende alles entscheiden könnte: Im US-Wahlkampf 2020 wurde nicht nur hitzig darüber diskutiert, wer, sondern auch, wie gewählt werden soll. Wieso ist das so und wie funktioniert das US-Wahlsystem eigentlich genau? Wir haben uns das mal vom Politikwissenschaftler Mike Cowburn erklären lassen.
fluter.de: Der amtierende Präsident Donald Trump hat mehrfach erklärt, dass er das Ergebnis der bevorstehenden Wahl eventuell nicht anerkennen wird. Was würde denn dann passieren?
Mike Cowburn: Eigentlich sorgen die institutionellen Strukturen der USA dafür, dass es diese Möglichkeit nicht gibt: Wenn Biden gewinnt, würde er am 20. Januar 2021 der nächste US-Präsident werden, und es gäbe nichts, was Trump dagegen tun könnte. Es ist allerdings denkbar, dass Trump seine Anhänger mobilisiert und es zu Ausschreitungen kommen könnte. Das ist schwer abzusehen. Es hängt auch davon ab, wie das Ergebnis genau ausfällt: Sollte Biden mit einer klaren Mehrheit gewinnen, dürfte die Republikanische Partei Trump dazu drängen, die Wahl anzuerkennen. Bei einem sehr knappen Ausgang könnte es problematischer werden.
In dem Fall könnte der Supreme Court entscheiden, wer die Wahl gewonnen hat. Gerade tobt um das Oberste Gericht eine hitzige Debatte, weil Trump die als konservativ geltende Amy Coney Barrett noch vor der Wahl zur Richterin ernennen lassen will. Nun sollte doch ein Gericht eigentlich unabhängig sein. Wieso spielt Barretts politische Ausrichtung überhaupt eine Rolle?
Historisch gesehen ist das eine relativ neue Entwicklung. So politisiert wie heute war das Oberste Gericht noch nie. Trump will Barrett zur Richterin machen, weil er glaubt, sie habe bestimmte Ansichten zu Themen wie Abtreibung oder möglicherweise auch zur Wahl, die ihm helfen könnten. Das mag uns in Europa merkwürdig vorkommen, weil hier das Gerichtssystem anders funktioniert und nicht annähernd so politisch ist wie in den USA. Ich sehe in dieser Politisierung ein großes Problem, denn es birgt die Gefahr, dass die US-Amerikaner das Vertrauen in ihr Oberstes Gericht verlieren.
In einem solchen Gerichtsverfahren nach der Wahl könnte es auch um die Briefwahl gehen, die Trump im Wahlkampf kritisiert. Die so abgegebenen Stimmen seien manipulierbar, behauptet er. Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass er recht haben könnte?
Nein. Es ist sogar so, dass Trump selbst Briefwahlunterlagen angefordert hat, er ist ja in Florida registriert (Anmerkung der Redaktion: Trump gab am 24. Oktober, nachdem das Interview geführt wurde, seine Stimme dann doch vorzeitig vor Ort in West Palm Beach ab). Die meisten Analysten sind sich einig, dass das eine Strategie Trumps ist, um dem Wahlprozess Legitimität abzusprechen.
Die Demokraten werfen den Republikanern wiederum vor, den Zugang zur Briefwahl einschränken zu wollen. Sind ihre Sorgen berechtigt?
Ja, ich denke, gerade sieht es tatsächlich so aus, dass die Republikaner bewusst versuchen, Wählerstimmen zu unterdrücken. Die Briefwahl erleichtert ja den Zugang zur Wahl. Nun wissen Trump und die Republikaner aber, dass es bei einer Abstimmung, bei der viele Menschen zur Wahl gehen, für sie unwahrscheinlicher wird zu gewinnen. Der republikanische Gouverneur von Texas hat zum Beispiel versucht, die Anzahl der offiziellen Abgabestellen für Briefwahlstimmen auf eine pro Landkreis zu begrenzen.
An manchen Orten müssen Menschen außerdem fünf oder sechs Stunden anstehen, um den Wahlzettel vor Ort abgeben zu können. Das betrifft vor allem urbane Gegenden, und wir wissen, dass dort grundsätzlich eher die Demokraten gewählt werden. Es scheint also so, als hätten wir es mit einem systematischen Versuch der Republikaner zu tun, bestimmten Menschen das Wählen zu erschweren. So sollte eine Demokratie nicht funktionieren – alle Parteien sollten so viele Menschen wie möglich ermutigen, zur Wahl zu gehen.
Nun gibt es neben den aktuellen Streitpunkten ja auch einige grundlegende Dinge am US-Wahlsystem, die einen aus deutscher Sicht überraschen. Zum Beispiel, dass man sich für die Wahl erst einmal registrieren lassen muss. 50 Millionen der 250 Millionen Wahlberechtigten haben das nicht gemacht. Woran liegt das?
Auch das ist ein sehr politisiertes Thema. In den USA muss man sich aktiv darum bemühen, sein Wahlrecht ausüben zu können. Und dabei gibt es einige Hürden. Zum Beispiel will die Republikanische Partei, dass jeder, der abstimmt, einen Lichtbildausweis vorzeigt. Den zu bekommen kostet Geld, also haben ärmere Menschen – darunter viele People of Color – häufig keine Ausweise. Das sind aber genau die Menschen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit die Demokraten wählen.
Eine andere viel diskutierte Frage ist das „Gerrymandering“, also das Zuschneiden von Wahlbezirken. Wie muss ich mir das vorstellen?
In den meisten europäischen Ländern entscheiden unabhängige Kommissionen, wie die Wahlbezirksgrenzen verlaufen. In den USA tun das die Parteien. Wer immer in einem Bundesstaat also gerade regiert, darf entscheiden – und da beobachtet man mitunter, dass die Grenzen so gezogen werden, dass es für die eigene Partei leichter ist, möglichst viele Abgeordnetensitze zu bekommen. Bei diesem Thema nehmen sich die Republikaner und die Demokraten übrigens nichts: Beide Parteien praktizieren das „Gerrymandering“ seit Jahrzehnten.
Sprechen wir über den vielleicht größten Unterschied im Vergleich zu Deutschland: das „Winner takes it all“-Prinzip. Der Gewinner eines Bundesstaats bekommt alle Wahlleute, die dann später den Präsidenten ernennen. 2016 wurde Trump Präsident – obwohl seine Herausforderin Hillary Clinton in absoluten Zahlen knapp drei Millionen Wählerstimmen mehr für sich verzeichnen konnte.
Das mag aus deutscher Sicht etwas merkwürdig und vielleicht auch unfair erscheinen. Allerdings ist dieser Fall bisher erst viermal vorgekommen. Befürworter des Systems würden sagen, die USA sind eben ein Föderalstaat und die Demokratie spielt sich auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten ab. Der Grund dafür, dass dieses Phänomen in den vergangenen 20 Jahren schon zweimal – außer im Jahr 2016 noch im Jahr 2000 – aufgetreten ist, liegt an den wachsenden Unterschieden zwischen Stadt und Land. Die Demokraten gewinnen häufiger in urbanen Gegenden, wo immer mehr Menschen leben. Das spiegelt sich aber noch nicht in der Verteilung der Wahlleute wider: Die ländlichen Gegenden dürfen im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl mehr Wahlleute entsenden als die städtischen. Deswegen dürfte dieses Phänomen in Zukunft noch öfter auftreten.
Wäre es an der Zeit, das System zu ändern?
Dafür wäre eine Verfassungsänderung nötig, und die ist gerade sehr schwierig umzusetzen. Man bräuchte eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Kongresses, und dann müsste man das Ganze noch von drei Viertel der Bundesstaaten ratifizieren lassen. Besonders die kleineren Staaten hätten daran aber wenig Interesse, denn eine Änderung des Systems würde für sie weniger Macht bedeuten. Aber selbst wenn es dieses Hindernis nicht gäbe: Die politische Polarisierung ist in den USA derzeit so stark, dass die beiden Parteien es wohl kaum schaffen würden, sich zu einigen.
Mike Cowburn, Jahrgang 1986, hat im britischen Exeter und in Berlin Politikwissenschaften studiert. An der Freien Universität Berlin promoviert er gerade zur Polarisierung der Parteien in den US-amerikanischen Kongress-Vorwahlen.