Dass im Dezember 2019 meine Beziehung zerbrach, lag an einem Tag acht Monate zuvor, als ich mit meiner Freundin Leah an der polnischen Ostsee saß. Wir waren gerade eine Runde Riesenrad gefahren und fingen nun an, bei Aperol Spritz aus Pappbechern über unsere Liebesbeziehung zu sprechen. Wir wohnten seit einem Jahr zusammen, zwei Berufseinsteiger. In ein paar Jahren könnte man Kinder bekommen, warum nicht. Und bis dahin? Na ja, sagte Leah, vielleicht noch mal ein bisschen Freiheit?
Die Vorstellung einer offenen Liebesbeziehung gefiel mir sofort. Wir waren glücklich, ein starkes Team. Was könnte uns ein bisschen Freiheit schon anhaben? Ich musste auch an Sophia denken. Zwischen ihr und mir hatte es immer mal wieder geknistert. Und zwischen Leah und mir war körperliche Nähe in letzter Zeit eher ein Problem, über das wir nicht wirklich sprachen. Ich dachte: Ein bisschen Ablenkung könnte uns helfen, wieder zueinanderzufinden. Der Gedanke, dass sie mit anderen Männern schlafen würde, störte mich nicht.
Monogamie? Ist doch ein kränkelndes Modell
Wir sagten: Wir machen das, ab jetzt. Weil es mich so begeisterte, was wir taten, wollte ich gleich alles darüber wissen. Ich las Friedemann Karig, der in „Wie wir lieben“ die Monogamie als „das kranke Modell“ bezeichnet. Offene Beziehungen, so Karig, würden Paare hingegen „unverwundbar“ machen. Das leuchtete mir ein. Wer von niemandem Treue erwartet, der kann auch nicht belogen und verletzt werden – oder? Solche Fragen stellte ich nun triumphierend meinen fest gebundenen Freunden. Und ich meinte, dass es sie auch ein wenig neidisch machte.
Nicht mehr in einer exklusiven Liebesbeziehung zu sein war wie der Welt mit offenem Visier entgegenzutreten. Schlimme Gefühle wie Eifersucht oder Verdächtigung? Hatte ich für mich abgeschafft. Mit 25 entsprach ich nun einem modernen Bild, wie es derzeit in Netflix-Serien („Easy“) oder Pop-Romanen („Allegro Pastell“) von meiner Generation gezeichnet wird.
Ich glaube sogar, dass das letztlich ausschlaggebend war: Wir, Leah und ich, wollten etwas tun, das als zeitgemäß gilt. Es fühlte sich intuitiv richtig an. Und das gute Gefühl hielt auch eine Weile vor, wie ein High, bei dem man sich nie fragt, ob es jemals endet. Aber irgendwann verstanden wir, dass in unserer Beziehung, als wir sie geöffnet hatten, etwas abhandengekommen war, das wir niemals als gefährdet angesehen hätten: die Wahrheit. Ich will das erklären.
Erst einigten wir uns auf: Don’t ask, don’t tell
Alles begann mit der „Nicht fragen, nicht sagen“-Regelung. Wie in jeder Liebesbeziehung, die keine sexuelle Exklusivität beinhalten soll, mussten wir uns darauf einigen, wie wir über Sex mit anderen sprechen wollten. Es dem anderen einfach ungefragt erzählen? Das kam uns ungut vor. Denn kleinere Verletzungen, da waren wir uns einig, waren ja vielleicht doch nicht auszuschließen. Wir wussten nicht, wie es sich anfühlen würde, wenn der andere zum ersten Mal eine andere Person datet, küsst, sich vielleicht in sie verguckt, vielleicht mit ihr schläft. Ich wusste, dass ich nicht unvorbereitet damit konfrontiert werden wollte. Also hielten wir fest: Don’t ask. Don’t tell.
Es vergingen einige Wochen, bis wir zum ersten Mal unser neues Beziehungsmodell auslebten. Ich traf, wie erhofft, Sophia, wir schliefen miteinander, es war wunderschön und genauso, wie wir es uns immer vorgestellt hatten. Auch Leah schlief mit einem anderen Mann, was mich ehrlich freute. Dass es mir gut damit ging, merkte ich auch daran, dass ich den anderen nicht auf Instagram stalkte. Ich war, wie Karig es versprochen hatte: unverwundbar. Dachte ich.
Aber wenn man zusammenlebt, ist es gar nicht so einfach, Dinge zu tun, von denen der andere nichts erfahren soll. Ich hatte da einen gewissen Vorteil: Leah wohnte die halbe Woche in einer anderen Stadt. Ich konnte mein Leben also gut strukturieren in klassische Beziehungstage – und Eskapismus.
…später dann auf: Immer alles erzählen!
Für Leah war das nicht so leicht, ich war ja immer da. Und so begann ich mit der Zeit, Verhaltensmuster wiederzuerkennen, die mich erahnen ließen, wann sie den anderen Mann traf. Meistens war es freitags, dass sie sagte: „Ich gehe mit Freundinnen etwas trinken“, aber ich nur hörte: „Und danach treffe ich noch jemanden.“
Ich hätte in solchen Momenten nachfragen können. Oder sollen? Das wusste ich irgendwann nicht mehr. Es störte mich, dass wir nun dauernd nach Formulierungen suchten, in denen man etwas aktiv verschweigt und den anderen im Vagen lässt. Was unterscheidet bewusstes Weglassen überhaupt von einer Lüge? Wir justierten also noch mal nach. Von nun an galt: Alles erzählen. Die ganze Wahrheit, immer.
Eines Morgens, Leah war gerade eine Nacht weggeblieben, schrieb ich ihr: Alles gut? Und: Gestern Date gehabt? Ich schrieb ihr, weil ich nicht warten wollte, bis sie es erzählte. Ich war aufgewühlt, weil mir unsere Regeln plötzlich unsinnig vorkamen. Ich blickte nicht mehr durch. Und ich merkte schon beim Schreiben, dass es völlig egal war, wann oder was sie antworten würde, denn ich kannte ja schon die Antwort.
Einige Wochen redete ich mir noch ein, dass es perfekt so sei: eine Beziehung, die nicht an Unehrlichkeit scheitern kann. Die immun gegen Verletzungen ist, unverwundbar.
Verwundbar sein, ohne verwundet zu werden
Doch dann merkte ich, dass die Liebe für mich einer der letzten Lebensbereiche ist, in denen man sich eben nicht immunisieren muss. Unsere Gegenwart, in der gleichzeitig Rechtsextreme Auftrieb haben und ein Virus die Welt lahmlegt, nehme ich als andauernde Krise wahr. Private Rückzugsorte werden damit wichtiger. Für mich müssen das Orte sein, an denen man eine besondere Erfahrung macht: verwundbar zu sein, ohne verwundet zu werden.
Liebe bedeutet für mich genau das: schwach werden, sich weggeben. Und dann erleben, wie man trotzdem nicht verletzt wird. In einer offenen Beziehung, in der alles entgrenzt und erlaubt ist, ist das aber in meinen Augen unmöglich.
Ein paar Monate später fühlte sich unsere Liebe abgestumpft an. Wir trennten uns und zogen auseinander, sie nahm die Auflaufform mit und ließ mir den Standmixer da. Wir hatten Sexualität, Nähe oder Anziehung außerhalb unserer Beziehung gefunden und mussten sie dadurch nicht mehr innerhalb aushandeln. Wir wollten frei sein. Näher zusammen brachte uns das nicht.
Titelbild: Celine Yasemin