1. Die Schatten in der Höhle: Platons Höhlengleichnis
Im Grunde ist es ein Szenario wie aus einem modernen Horrorfilm: Gefangene sind in einer Höhle gefesselt, sogar ihre Köpfe sind fixiert. Ihr Blickfeld (und damit ihre Welt) ist auf die Höhlenwand vor ihren Augen begrenzt. Weit hinter ihnen brennt ein Feuer, das sie nicht sehen können, ebensowenig die Figuren, die als Schatten vor ihnen an der Wand tanzen. Für sie gibt es nur diese Schatten – und die Stimmen, die von der Höhlenwand widerhallen, sind die Stimmen der Schatten.
Ein Gefangener, der sich umdreht, würde vom Licht geblendet und verunsichert. Er hielte das Feuer für weniger real als die gewohnten Schatten und würde an seinen sicheren Platz zurückkehren. Würde er aber die Höhle verlassen, wäre er auch zunächst verwirrt, die Sonne würde ihn blenden, aber allmählich würde er erkennen, wie die Welt beschaffen ist. Und wie die Schatten entstehen. Platons Höhlengleichnis erzählt vom Wesen der Wahrheit. Es beschreibt den Lernvorgang, der idealerweise zur Wahrheit führt – und welche Verantwortung damit verbunden ist. Denn wenn der Erleuchtete in die Höhle zurückkehrt, würde er die Schatten anders interpretieren. Die anderen Gefangenen aber würden denken, dass er sich oben die Augen verdorben habe. Und ihn, sollte er sie ebenfalls aus der Höhle ans Licht führen wollen, vielleicht sogar umbringen. Das Wissen um die Wahrheit, legt Platon nahe, ist nicht ungefährlich.
2. Nicht wahr, nicht falsch, unentscheidbar: Gödels Unvollständigkeitssatz
Albert Einstein sagte einmal, er komme nur noch an sein Institut in Princeton, „um das Privileg zu haben, mit Gödel zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen“. Kurt Gödel, 27 Jahre jünger als Einstein, galt schon damals als „Mozart der Mathematik“.
Seit der Antike, seit Pythagoras, war die Mathematik die etwas nerdige Schwester der Philosophie. Ihre unabweisbare Strenge hat Gödel, geboren 1906, ins Feld geführt, um die Wahrheit um eine zusätzliche Dimension zu erweitern: Es gibt nicht nur „wahr“ und „falsch“, sondern auch „unentscheidbar“. Bewiesen hat er das in seinen beiden Unvollständigkeitssätzen. Sie waren eine Antwort auf einen anderen großen Mathematiker, David Hilbert. Der hatte sich bemüht, alle mathematischen Systeme als logische Folge stabiler Axiome (also: unhinterfragbarer Grundwahrheiten) anzusehen. In der Mathematik gäbe es kein „Wir wissen es nicht“.
Gödel behauptete, es gebe Sätze, die zwar inhaltlich richtig, aber im System der klassischen Mathematik unbeweisbar sind. Die Goldbach’sche Vermutung beispielsweise, dass sich jede gerade Zahl größer als 2 als Summe zweier Primzahlen darstellen lasse (4 = 2 + 2, 6 = 3 + 3 und so weiter), ist seit dem 18. Jahrhundert weder widerlegt noch bewiesen worden. Man weiß es einfach nicht.Erklären lässt sich das anhand einer Behauptung wie „Dieser Satz ist falsch“. Trifft der Satz zu, ist er falsch. Ist er aber falsch, wäre seine Aussage wahr. Was wiederum bedeutet, dass er nicht wahr ist. Seitdem müssen Mathematiker an die Widerspruchsfreiheit ihres Tuns glauben. Beweisen können sie es nicht, weil kein System wahre Aussagen über sich selbst hinaus treffen kann.
3. Das Wahre ist das Ganze: Intersubjektive Überprüfbarkeit
Für den Philosophen Immanuel Kant war Wahrheit in einer „Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand“ gegeben. Umgekehrt ist eine Erkenntnis dann „falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen ist, nicht übereinstimmt“. Simpel gesagt: Wenn wir eine Birne als Apfel bezeichnen.
Da aber das Objekt „außer mir“ ist, die Erkenntnis als geistiger Vorgang aber „in mir“, kann sich auf diese Weise immer nur die Erkenntnis von einem Gegenstand selbst bestätigen. Ich erkenne die Birne als Birne, wenn das meiner Erfahrung entspricht, aber auch dem Urteil anderer Menschen über den betreffenden Gegenstand. Die Wahrheit läge demnach im Zusammenhang zutreffender Urteile. In der Wissenschaft nennt man das „intersubjektive Überprüfbarkeit“. Meine Erkenntnis wird von anderen Experten geteilt.
In diesem Punkt widersprach Georg Wilhelm Friedrich Hegel, indem er weit über Kant hinausging. In seiner „Phänomenologie des Geistes“, 1807 und drei Jahre nach dem Tod von Kant veröffentlicht, erklärte Hegel: „Das Wahre ist das Ganze.“ Dabei ist das „Ganze“ für Hegel nicht die Summe seiner Teile – sondern sozusagen der Gang zum Resultat, die Bewegung hin zum „Absoluten“.
Im absoluten Wissen, so Hegel weiter, würden Subjekt und Objekt eins. Vereinfacht gesagt wäre Wahrheit demnach nicht in blitzartiger oder punktueller Erkenntnis zu haben, nicht als „richtiges“ Urteil oder kohärenter Zusammenhang zutreffender Beobachtungen. Sondern nur als andauernde Arbeit am Begriff selbst. Friedrich Nietzsche wird zu dieser Frage später lakonisch schreiben, Wahrheit sei „die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte“.
4. Wittgenstein: Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen der Welt
Laut Ludwig Wittgenstein (geboren 1889 in Wien) ist die Sprache der Schlüssel zur Wahrheit. Deshalb habe sie logischen Gesetzen zu folgen. Die Wirklichkeit zerfällt laut Wittgenstein in Dinge, denen in der Sprache jeweils ein Name zugeordnet ist. Erst die Zusammenfassung dieser Namen in Sätzen verleiht ihnen Sinn. Deckt sich dieser Sinn mit den von den Namen bezeichneten Dingen, kann man von „wahren“ Sätzen sprechen. Eine Behauptung wie „Die Temperatur des Wassers beträgt 20 Grad“ ist schlicht dann wahr, wenn wirklich eine „Temperatur“ von „20 Grad“ im „Wasser“ gemessen wurde. Analog zur Mathematik ist demnach ein „falscher“ Satz, was sich nicht auf die Wirklichkeit anwenden lässt. Hinzu kommt ein Drittes, der Unsinn. Eine Aussage wie „Dieser Satz ist falsch“ bezieht sich nicht auf ein Ding, sondern nur auf sich selbst – und ist daher „unsinnig“.
Wittgenstein leistet von linguistischer Seite, was Gödel aus mathematischer Sicht formuliert hat. Er zeigt die Beschränktheit eines – hier sprachlichen – Systems. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Für Metaphysik, Glaube oder Mutmaßungen ist bei Wittgenstein kein Platz: „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“
5. Sowohl wahr als auch falsch: Quantenlogik
In vielen physikalischen Experimenten stellen Quanten, also Einheiten von Energie, unser herkömmliches Verständnis der Naturgesetze auf den Kopf. Quanten tun nämlich nicht, was sie theoretisch tun müssten. So können Quanten mehrere, einander widersprechende Eigenschaften haben, etwa Welle und Teilchen zugleich sein. Miteinander „verschränkte“ Teilchen nehmen zum Zeitpunkt einer Messung sogar den gleichen Zustand ein, auch wenn sie weit voneinander entfernt gemessen werden – als wohnte eine Seele in zwei Körperchen.
Nach den Gesetzen der Relativitätstheorie – wonach nichts schneller ist als das Licht, also auch keine „Information“ über den Zustand eines Teilchens – kann das nicht sein. Albert Einstein selbst scherzte, da müsse eine „spukhafte Fernwirkung“ am Werk sein. In diesen Grenzbereichen der Physik versagt nicht nur die menschliche Intuition. Offenbar ist etwas „wahr“ und bis auf Weiteres beweisbar, was nicht wahr sein kann. Das ist nicht nur ein Dilemma, es ist sogar ein „Tetralemma“. Und dafür gibt es im westlichen Denken keinerlei Vorbilder – wohl aber in östlichen Philosophien. In buddhistischen Schriften können Dinge „wahr“ und „falsch“, aber auch „sowohl wahr als auch falsch“ und, zu allem Überfluss, „weder wahr noch falsch“ sein. Das behauptete etwa der Philosoph Nāgārjuna, ein bedeutender Vertreter des Mahāyāna-Buddhismus, im 2. Jahrhundert nach Christus. Es wäre auf der Suche nach der Wahrheit eine neue Logik zu entfalten, die mehr als nur zwei Wahrheitswerte kennt.
Illustrationen: Golden Cosmos/2agenten