Was ist die Gamestop-Saga?
Kleinanleger haben Hedgefonds – milliardenschwere Investmentfonds, die mit spekulativen Geldanlagen viel Gewinn machen wollen – an der Wall Street Anfang des Jahres Milliardenverluste beschert. Und zwar mit voller Absicht. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht die Aktie des US-Videospielehändlers Gamestop, die schon seit einiger Zeit wenig wert war. Auf sie haben Finanzprofis eine Wette abgeschlossen: nämlich dass ihr Kurs weiter sinkt (wie das funktioniert, lest ihr weiter unten). Was danach passierte, wird in den USA mittlerweile als „Gamestop-Saga“ bezeichnet: Über Onlineforen wie Reddit verabredeten Hobbyanleger, die Gamestop-Aktie in die Höhe zu treiben. Mit Erfolg: Im Januar stieg der Kurs zeitweise um rund 1.200 Prozent. In der einen Woche war die Aktie knapp 40 Dollar wert, in der anderen erreichte sie einen Höchststand von über 480 US-Dollar. Wer also im richtigen Moment 10.000 Dollar setzte, war später um 110.000 Dollar reicher. Die Hedgefonds hingegen verloren allein im Januar laut der Finanzanalysefirma Ortex 12,5 Milliarden US-Dollar. Die Gamestop-Aktie wurde quasi leer gekauft, es kam zu einem sogenannten „Short Squeeze“ (siehe unten), und die Aktie fiel wieder dramatisch. Seitdem: ein einziges Auf und Ab.
Warum wettet man auf fallende Aktien?
Ein Investor, der nur auf steigende Kurse setzt, kann bei einem Börsencrash alles verlieren. Wer zusätzlich auch auf fallende Kurse wettet, sichert sich besser gegen diesen Fall ab. Der Begriff Hedgefonds leitet sich sogar von der Idee ab, das Verlustrisiko abzusichern (auf Englisch: to hedge). Heute haben manche Hedgefonds allerdings den Ruf als Spekulanten mit sehr viel Geld, die mit Verlustwetten Firmen in die Insolvenz treiben und selbst die Politik vor sich hertreiben. Nur ein Beispiel: Im Jahr 1992 brachten Spekulanten mit einer Wette gegen das ohnehin schon angeschlagene britische Pfund Sterling die Bank of England in arge Bedrängnis – was zur massiven Abwertung der Währung führte und den Austritt Großbritanniens aus dem Europäischen Währungssystem (EWS) begünstigte. Soros hingegen gewann an einem Tag mehr als eine Milliarde US-Dollar. Und das Kapital der Großinvestoren wächst: Im Jahr 2000 verwalteten Hedgefonds weltweit 263 Milliarden US-Dollar. Ende September 2020 waren es schon fast 3,4 Billionen. Wetten auf fallende Kurse – das sogenannte „Short Selling“ – ist dabei besonders beliebt. Mit ihnen lassen sich schnell maximale Renditen erwirtschaften.
Wie funktioniert Short Selling?
Beim Short Selling, auch Leerverkauf genannt, leiht sich ein Anleger Wertpapiere für eine Leihgebühr über die Börse und verkauft diese zu einem höheren Preis weiter. Um die zu Beginn geliehenen Wertpapiere wieder zurückgeben zu können, kauft der Anleger sie nach einer gewissen Zeit wieder zurück. Der Clou ist, so lange zu warten, bis der Wert der Aktie gefallen ist und die Differenz zwischen Verkauf- und Kaufpreis die Leihgebühr übersteigt. Wer die Aktie also im richtigen Moment zurückkauft und sie dem Eigentümer übergibt, hat einen Gewinn erzielt. Das „Shorten“ birgt aber auch hohe Risiken. Wenn die Wette nicht aufgeht und die Aktie steigt, muss der Anleger in den sauren Apfel beißen und die Aktien notfalls viel teurer zurückkaufen. Das kann, wenn viele Shortseller gleichzeitig Aktien zurückkaufen müssen, zu einer Kursexplosion führen, in der Börsensprache „Short Squeeze“ genannt. Genau das ist auch bei der Gamestop-Aktie passiert.
Die Kleinanleger sind also die Gewinner?
Mitnichten. Zum einen, weil auch viele Kleinanleger mit den Gamestop-Aktien viel Geld verloren haben dürften. Denn so schnell, wie der Kurs nach oben schoss, fiel er auch wieder. Eine Woche nach seinem Höchststand war die Gamestop-Aktie nur mehr 91 US-Dollar wert. Zum anderen haben nicht nur Kleinanleger auf steigende Kurse gewettet, sondern zum Beispiel auch Hedgefonds. Die Fronten sind also nicht so klar, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Dafür spricht auch Folgendes: Viele der Kleinanleger nutzen für ihre Aktienkäufe eine App namens Robinhood, die es in Deutschland übrigens noch nicht gibt. Sie ist wie andere Börsenapps kostenlos und seit Beginn der Pandemie sehr beliebt, um Aktien bequem vom Smartphone aus zu kaufen. An jedem Kauf oder Verkauf, den jemand über die Robinhood-App tätigt, verdienen aber klassische Finanzunternehmen mit. Zum Beispiel Citadel, einer der Großinvestoren an der Wall Street, der selbst Hedgefonds betreibt. Robinhood gibt die Börsenaufträge seiner Kunden weiter und kassiert dafür eine Provision. Von einer Umverteilung, wie der Name Robinhood suggeriert, kann also nicht wirklich die Rede sein.
Warum ist das Ganze eine so große Sache?
Irre Kursschwankungen und Milliardenverluste sind an sich nicht neu. Doch dieses Mal stehen Manipulationsvorwürfe im Raum, die in den USA mittlerweile das Justizministerium, die Börsenaufsicht SEC und sogar den Kongress beschäftigen. Der erste Verdacht richtet sich gegen die App Robinhood, die dem Höhenflug der Gamestop-Aktie Ende Januar ein jähes Ende bereitete, indem sie plötzlich nur noch den Verkauf erlaubte, aber nicht mehr den Kauf. Hobbyanleger und auch Politiker wittern dahinter Geheimabsprachen zwischen Robinhood und den Wall-Street-Großinvestoren. Vor dem US-Kongress hat das Unternehmen diesen Vorwurf zurückgewiesen und die Beschränkung mit der Pflicht begründet, für die Aufträge der Kunden ausreichendes Kapital zu hinterlegen.
Der zweite Manipulationsvorwurf betrifft die Absprachen auf Reddit. Sie sollen marktverzerrend sein, schließlich hätten mehrere Personen in dem Forum „WallStreetBets“ zum Kauf der Gamestop-Aktie aufgerufen, Hedgefonds wissentlich geschadet und dann möglicherweise persönlich von der Entwicklung profitiert. Einer der maßgeblichen Akteure – ein als „Roaring Kitty“ bekannter Youtuber – wurde bereits von einem betroffenen Hedgefonds verklagt. Die Großinvestoren fürchten, dass ihnen die Kleinanleger künftig öfter in die Suppe spucken könnten. Zumal sich ihr Marktanteil in den USA von 2019 auf 2020 bereits verdoppelt hat.
Und nun?
… ist erst mal weiter unklar, wie der Gamestop-Fall juristisch und politisch bewertet wird. Fakt ist: Wenn sich Kleinanleger organisieren, können sie die Wall Street gehörig durcheinanderwirbeln. Nach der Gamestop-Rallye haben Kunden von Robinhood bereits versucht, die Wetten der Shortseller auch bei anderen Aktien zu durchkreuzen. Es ist davon auszugehen, dass diese Strategie künftig noch populärer wird. Experten sprechen von einer neuen Art des Protests gegen die Finanzwelt, einer „Re-Occupy Wall Street“-Bewegung, die sich in sozialen Netzwerken gegen Großinvestoren organisiert. Sowohl Hollywood als auch Netflix wollen das Börsenspektakel rund um Reddit und Gamestop verfilmen. Vermutlich als Robin-Hood-Saga – mit Robinhood in der Nebenrolle.
Titelbild: Amy Lombard + Gabriela Bhaskar/NYT/Redux/laif